Textatelier
BLOG vom: 23.04.2005

Hier dreht sich alles um den Gotthard-Mythos

Autorin: Rita Lorenzetti

Wie jedes Mal, wenn wir in den Süden reisen, bewegt die Durchfahrt durch den Gotthardtunnel unsere Emotionen und fördert Erinnerungen zu Tage. Immer sind die Geschichten aus „Mein Name ist Eugen“ von Klaus Schädelin dabei. Auch diesmal wieder. Mein Mann und ich denken gerne an die dort beschriebenen Lausbubengeschichten zurück, denn wir gehören zur Generation, von der sie erzählen.

Natürlich haben auch wir unseren Kindern vorgeführt, wie der Beweis erbracht werden könne, dass die Eisenbahn-Tunnels im Kreis herum führen. Wie im Eugen-Buch beschrieben, befestigten wir ebenfalls einen Schuh an der Gepäcksablage und liessen ihn pendeln. Für die Mädchen war das aber nicht so spannend. Die Begeisterung lag eher auf der Seite der Eltern. Die Kirche Wassen jedoch, denen die Reisenden vom Bahnfenster aus auf immer anderen Ebenen und Abständen begegnen, sie bleibt für alle bis heute eine Attraktion.

Unsere Gotthard-Überquerung zu zweit und zu Fuss ist aber das massgebende Erlebnis, das uns mit diesem Pass und seiner Ausstrahlung verbindet. Aus eigener Kraft, weder von Pferden gezogen noch von Autos hingeführt, bewältigten wir vor Jahren Aufstieg und Abstieg. Immer Schritt um Schritt vorwärts, immer von grosser Neugierde angetrieben, welche Sicht uns die nächste Wegbiegung bereithalte.

Es ist heute nicht mehr gefährlich, die Säumerwege zu begehen. Sie sind gepflegt und gut markiert. Wie anders in zurückliegenden Jahrhunderten, als Menschen und Tiere in unwegsamem Gebiet vom Wege abkommen konnten, erfroren oder von Lawinen verschüttet wurden! Der Tod muss dort oben ein Dauergast gewesen sein. Es fällt uns heute schwer, nachzuempfinden, wie die Altvordern mit Naturgewalten und Gefahren umgegangen sind.

Zu Fuss auf dem Gotthard anzukommen, ist etwas Bewegendes. Ich weiss noch, wie wir in der modernen Kapelle allein zu singen anfingen und wie warm und resonanzfreudig der Raum antwortete. Auch das Museums-Erlebnis ist eingeprägt. Bilder, Ton und Texte lassen Zeitsprünge Richtung Vergangenheit zu. Dort kann man sich der Geschichte hingeben. Mich hat sie nie mehr losgelassen.

Ein Blick ins „Nationale Gotthard-Museum“-Buch versetzt mich immer wieder vom Sofa weg in die Sust auf St. Gotthard. Unser persönlicher Höhepunkt damals: Eine Übernachtung im Hospiz. Obwohl angemeldet, fühlte ich eine grosse Erleichterung, hier oben gastfreundlich und unbesorgt nächtigen zu können. Noch höre ich dem Wind zu, wie er, von Norden her kommend, sich anschlich, über die Hospiz-Ebene zog und dann in die Tiefe Richtung Süden sauste. Ich lag wach. Es war still, wie es nur in den Bergen still sein kann. In mir drinnen sah ich seinen Weg, wie er für ihn für jene Nacht vorgegeben war.

Das im Jahr 2003 im Orell Füssli Verlag erschienene Buch „Mythos Gotthard“ erklärt uns, was der Pass bedeutete und auch heute noch bedeutet. Der Verlag schreibt dazu: „Der Sankt Gotthard ist nicht einfach ein Pass. Er ist eine Vorstellung. Während der 800 Jahre, seit denen er begangen, befahren, durchbohrt und ausgehöhlt wird, haben die Menschen eine Vielzahl von Bedeutungen in ihn hineingelegt und aus ihm herausgelesen. Zentrum Europas, Seele der Schweiz, Lebensader, Schicksalsweg, Fels in der Brandung der Weltgeschichte – solche Ideen vom Gotthard sind tief im kollektiven Bewusstsein verankert und prägen das Denken und Handeln der Menschen bis in die tagesaktuelle Debatte hinein.“

Im diesem Buch erklärt uns der Autor Helmuth Stalder auch, was Mythen sind: „Überlieferungen und Erzählungen aus der Frühzeit einer Gemeinschaft, die berichten von der Entstehung der Welt, vom Wirken der Götter und Dämonen, von den Tagen der Heroen. Es sind legendenhafte, sagenhafte Schilderungen von Sachverhalten, Begebenheiten und Personen, die die Gemeinschaft als wichtig empfindet. An ihrem Ursprung stehen oft reale Ereignisse, die dann in einen Sinnzusammenhang gebracht und in ein Bedeutungssystem integriert werden. Im Mythos tritt das Reale hinter das Bild zurück. Was vor Augen steht, ist ein nebulöses Kondensat, ein konfuses ,Wissen', das sich in einem unaufhörlich kreisenden Prozess aus einer Vielzahl von Assoziationen bildet.“

Diesen Prozess spürte ich auch diesmal wieder stark, auch wenn ich „nur“ mit der Bahn und „nur“ durch den Berg reiste. Es ist immer bewegend, wenn ich an dieser Scheide, die Norden und Süden trennt, durchkomme und an die vielen Menschen denken kann, denen ich das heutige sichere Reisen verdanke.

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