Textatelier
BLOG vom: 21.05.2023

„Banntagsgedanken“ über Verlegenheit in der Bürgerschaft

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU

 

Der Beromünsterer Auffahrtsumritt des Vorjahres war für mich denkwürdig als letzte Begegnung mit dessen bestem Kenner Ludwig Suter (1949 - 2022); dieses Jahr war ich in Liedertswil Baselland als „Banntagsredner“ geladen. Meine Aufgabe war ein Vergleich eines Rechtsbrauches der männerbündischen an Auffahrt stattfindenden Marksteinbesichtigungen im Baselbiet im Unterschied zu den Flursegnungen, aber auch Friedkreisbegehungen der Luzerner Umritte. Längst sind diese Bräuche keine Männerangelegenheit mehr, so wenig wie einst die Umritte bei uns; oder im Kanton Glarus die „Näfelser Fahrt“. Letzterer grosse Volksbrauch hat Ähnlichkeiten mit dem Beromünsterer Auffahrtsgeschehen. Unsere Schweizer Volkskunde ist noch längst nicht fertig geschrieben. Desgleichen nicht die Beromünsterer Gelehrtengeschichte, wozu Meteorologiehistoriker Bernhard Amrein gehört.

Zu den volkskindlichen Erkundungen dieses Jahres zählte für mich der Besuch der Näfelser Fahrt, der Schlachtfeier des Landes Glarus betreffend der Sempach analogen Schlacht von 1388, die historisch viel mit der Selbstbestimmung des Landsgemeindekantons zu tun hat. Die sonst eindrückliche Ansprache des Landesstatthalters und Baudirektors thematisierte den Klimawandel, der über einen NZZ-Artikel kommentiert wurde. Dem Redner fiel kein Beispiel aus dem eigenen Kanton ein. Dies fiel mir auf, weil ich mich für mein neues Buch zentral mit dem schweren Leben der Glarner von einst mit Föhn, Lawinen, Erdrutschen, Missernten und Hungersnöten befasst hatte, bis hin zu Weizenlieferungen des Zaren für hungernde Bergkinder.  Die Hilfe kam 1817 aus der Ukraine.

Seit meiner ersten Vorlesung (als Hörer) zur Geschichte der Meteorologie im Sommersemester 1970 ist für mich der Zusammenhang historischer Entwicklungen mit Wetter und Klima, aber auch Seuchen und Pandemien wesentlich für kritisch geschriebene Kulturgeschichte. Damals wurde ich auf den französischen Kulturhistoriker Fernand Braudel aufmerksam; auch war früh klar, dass die mittelalterliche Klima-Erwärmung eine epochale Bedeutung für die Landwirtschaftsgeschichte hatte, besonders die Käse-Produktion; auch im Michelsamt; wohingegen die Abkühlungsperioden ab dem 16. Jahrhundert sich zum Teil katastrophal auswirkten. Darüber informierte ich mich seit Jahrzehnten über die dreiteilige umfassende Sammlung meteorologischer Daten für die Zentralschweiz durch den Luzerner Kantonsschullehrer Bernhard Amberg, der 1914 verstorben ist. Aber erst bei der Arbeit an der Schulgeschichte wurde mir klar, dass er ein ehemaliger Stiftsschüler war, der jedoch wie der bedeutende Naturwissenschaftler Prof. Josef Lindegger seine Schulzeit noch in den 1850er Jahren in Beromünster verbrachte: also noch vor der Umwandlung der Stiftsschule in eine Kantonale Mittelschule. Amberg kann als der bedeutendste Zentralschweizer Klimahistoriker früherer Zeiten gelten. Selbst wenn seine Daten, immerhin einige 10 000, seither mannigfach ergänzt wurden, hat er vor lauter Daten über die Bäume hinaus stets den „Wald“, das heisst die allgemeine Tendenz gesehen. Die Informationen reichten aus für die Darstellung des grossen Zusammenhangs, wenigstens im Rückblick. Zumal die Auswirkungen auf den konkreten Alltag wusste Amberg eindrücklichst zu beschreiben. Ähnlich geht es mir mit den durchwegs gelesenen Klima-Studien von Renward Cysat, Paracelsus und Johannes Kepler, ferner der Urner Kantonsgeschichte meines bestgeschätzten Kollegen und Alt Staatsarchivars Hans Stadler-Planzer.

Klima – Ein Religionsersatz?
Für die Volkskunde von Wetter und Klima war noch „zu meiner Zeit“ der Luzerner Kulturpreisträger Josef Zihlmann, genannt Seppi a der Wiggere zuständig. Zur „Klima-Ethik“ gehörte jeweils ein angepasstes, vernünftiges Verhalten, so beim Bauen und Wohnen. Das Verhältnis zu Wetter und Klima war existentiell und bedurfte keiner Propaganda als Religionsersatz.

Aus wissenschaftlich-historischer Sicht fällt auf, dass sowohl beim Berg Olymp, Pilatus, Sinai, sogar bis zum Berg Karmel im Heiligen Land nebst dem Tod das Wetter als der historisch bedeutendste Faktor der Religionsbildung eingeschätzt wird. Dies beeindruckt bei der sog. Klima-Jugend, die aber über mediales „Wissen“ statt von elementaren Erfahrungen bestimmt ist; dabei aber wie alle Generationen religiöse Bedürfnisse verspürt; dazu gehören die „Letzten Dinge“, das Weltgericht. Entsprechend wäre einschlägige Fanatisierung religionsgeschichtlich und sektengeschichtlich einer Untersuchung zu unterwerfen. Dies umso mehr, als Spitzenwissen über Erkenntnistheorie und langfristige Prognosen bei den allermeisten Meinungsbildnern von heute spärlich vorhanden ist und auch Studierte auf diesen Sektoren in der Regel nicht geprüft wurden.

Aus historischer Sicht zu denken gibt, dass meteorologische Vorstellungen schon seit der Bibel, den Berichten über die Sintflut und die Apokalypse, aber auch bei den sog. heidnischen zum Grundbestandteil religiöser Orientierung gehören, was ernst genommen zu nehmen verdient. Es handelt sich nämlich um die Basis zum Beispiel der Geschichte der Hexenprozesse, zumal in der Zentralschweiz und im Wallis. Dass menschliches Verhalten einen enormen Einfluss auf Wetter und Klima haben kann, gehört zu den Errungenschaften auch des ausschliesslich von Akademikern verfassten „Hexenhammers“ aus dem späten 15. Jahrhundert. Dieser Glaube konnte sich damals auf 95% Übereinstimmung der damaligen Experten stützen, die z.T. mehrere alte Sprachen und den Kalender-Computus, Algebra und Geometrie usw. kannten. Ihre Auffassungen waren und blieben zum Teil identitätsbildend und weltbildstiftend. Dabei ist aber schon klar, dass das heutige Wissen über den menschengemachten Klimawandel andere Grundlagen hat als es bei den Hexenprozessen war, mit Ausnahme der massenpsychologischen Auswirkungen. Das, was an heutigen Aussagen wahr sein könnte, müsste indes noch bis mindestens zum Jahre 2050 insofern abgewartet werden. Ebenso gut wie Klimaziele könnte man für das Jahr 2100 z.B. das Ziel 5 Millionen Einwohner zum Umweltoptimum erklären. Auch das könnte mit ungefähr gleich grosser Propaganda vielleicht schmackhaft gemacht werden, wäre gewiss weder vernünftiger noch unvernünftiger.

Wobei sich wohl die Politikerkaste sich lieber je in ihrem Milieu anpasserisch entscheidet und niemand in Bern ein Wissen hat über den Vermutungsrang hinaus. So wie im Bundesrat niemand gewählt wurde wegen Spezialwissen Aussenpolitik, leider. In diesem Fall wäre allein schon deswegen Neutralität das Angemessene.

Selber lege ich übrigens Wert darauf, mich in keiner Weise der Agitation des in dieser Sache seinerseits verirrten Journalisten Roger Köppel anschliessen zu wollen. Vor ein paar Monaten empfahl er übrigens ein zwar noch lesenswertes Buch von G. Stökl, das für mich selber vor 50 Jahren Basis meiner Diplomlektion Höheres Lehramt war, mit Einschränkung, dass es für sich allein auch für jenen Zweck nicht genügt hätte. Zu denken gibt mir freilich, dass meine Gewährspersonen seit Jahrzehnten, aus dem Umfeld der Russ. Akademie der Wissenschaften, im Gegensatz zu Köppel und auch Bundespräsident Cassis in dieser Sache schweigen, dabei aber um Welten mehr wissen als diese.

Diese Perspektiven geben mir umso mehr zu denken, als verständlich wird, warum immer mehr Bürgerinnen und Bürger der Urne fernbleiben. Weil Entscheidungen von Experten von Konsens-Objektivität bestimmt sind, wozu auch Bezahlung und Weiterbeschäftigung gehören. Aber positiv: Von der Gemeinde Liedertswil BL, die immer noch gleich viele Einwohnerinnen und Einwohner zählt wie 1660, nahmen rund 40 % am Banntag teil, feierten aktiv ihre Gemeinschaft. Es gab und gibt dort viele Geschichten zu erzählen.  Wer die Flurnamen in seiner Wohngemeinde nicht kennt, was will der schon über die Ukraine wissen?  

 

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