Textatelier
BLOG vom: 18.06.2017

Bettelverhalten in Zürich

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


Bettler entwickeln Strategien, um Passanten dazu zu bewegen, Geld zu spenden. Zu beobachten sind Bettler, die knieen und die Handflächen nach oben zeigen; Bettlerinnen, die ein kleines Kind auf dem Arm tragen und damit um Mitleid fragen; Bettler, die einen Hund mit sich führen und damit an Tierliebe appellieren; Bettler, die kleine Schilder hochhalten, auf denen ihre Situation geschildert wird, etwa, dass sie Hunger haben, dass sie obdachlos sind, dass sie arbeitslos sind; Bettler, die auf ihre fehlenden Gliedmaße hinweisen. Bettler gibt es schon immer, oft werden sie aus Innenstädte verdrängt, eine Gegenmassnahme ist auch die öffentliche Speisung oder die so genannte "Tafel", bei denen Lebensmittel abgegeben werden, deren Haltbarkeitsdatum gerade überschritten worden ist..

In Zürich regte 1520 der Reformator Ulrich Zwingli einen anderen Umgang mit der Bettelei an, ein Ansinnen der Verordnung, die auf sein Bestreben hin erlassen worden ist, hatte auch das Ziel, die Bettelei einzudämmen, stadtfremde Bettler fernzuhalten. Die Armenspeisung erhielt damals übrigens nur, wer vorher nicht öffentlich gebettelt hatte, wer es dennoch tat, dem wurde sie für 8 Tage gestrichen.

Meine Frau und ich haben uns am Zürichsee einen schattigen Platz gesucht. Rund um das Ufer direkt hinter der Stadt vergnügen sich viele Sonnenanbeter, unterhalten sich, fahren mit den kleinen Motorbooten oder mit den grossen Ausflugsschiffen auf den See hinaus.

Ich beobachte eine Zahl von Sperlingen, die eifrig Futterkrümel aufpicken. Dazwischen ist ein Vogel zu sehen, bei dem einer seiner Flügel etwas weiter herunterhängt als der andere. Er läuft vor allem zwischen den anderen herum und fliegt nur selten auf, obwohl er dazu durchaus in der Lage ist, denn ab und zu fliegt er auch auf, wenn auch meist nur ein paar Meter. Immer, wenn er Artgenossen mit Futter im Schnabel sieht, reisst er seinen auf. Damit erzeugt er bei ihnen einen Reflex, der sie dazu bewegt, ihm das Futter tief in den Schnabel zu schieben. Er selbst sucht nicht, er lässt sich füttern. Die Grösse des Vogels lässt nicht darauf schliessen, dass es sich um einen Jungvogel handelt. Er hat eine für ihn bequeme Art und Weise entwickelt, ohne grössere Kraftanstrengung Nahrung zu bekommen. Man kann es nicht anders sagen, er ist recht erfolgreich damit.

Ein paar Schritte weiter sieht man eine junge Familie, das Kind in einem Kinderwagen. Es schreit, die Mutter reicht ihm einen Schnuller, den es immer wieder ausspuckt, bis die Mutter zur Flasche übergeht. Aber auch diese rutscht so lange wieder aus dem Mündchen, bis sich die Mutter erbarmt. Die Familie bleibt stehen und die Mutter hält dem Baby so lange die Flasche, bis sie leer ist. Erst dann ist es zufrieden.

Ein mobiler Eiswagen kommt. Ich sehe einen etwa 10 Jahre alten Jungen, der seine Eltern um Geld anbettelt, um sie herumtänzelt und so lange fordert und nörgelt, bis der Vater seine Geldbörse zückt.

Ein Behindertenfahrzeug nähert sich. Es fährt elektrisch. Der Mann, der es bedient, steuert die Rückseite einer Bank an, auf der 3 sich unterhaltende Frauen sitzen. Ich bin nicht sicher, ob er sie kennt. Jedenfalls spricht er sie an, sie halten mit ihrem Gespräch ein, eine der 3 Frauen geht zu ihm und beginnt, ihm die Waden unterhalb der mittellangen Hose zu massieren. Es dauert nur wenige Minuten, dann ist der Mann zufrieden und fährt davon.

Ein Mann hat sich am Wurststand eine Bratwurst gekauft. Sein Hund sitzt auf den Hinterpfoten und blickt mit einem bettelnden, fordernden Ausdruck auf seinen Herrn und auf die Wurst, so lange bis er ein Stück davon abbekommt, aber auch so lange, bis die Wurst vertilgt ist.

Ich erkenne, Betteln funktioniert nur durch das Erregen von Aufmerksamkeit, die zu kommunikativem Verhalten führt. Dieses Verhalten muss nicht unbedingt verbalsprachlich erfolgen, aber es ist immer mindestens ein Sender und ein Empfänger erforderlich, die ihre Rollen innerhalb der Situation tauschen. Ich erkenne auch, dass dieses Verhalten nicht nur menschlich ist, auch Tiere sind fähig dazu. Täuschungsmanöver aller Art sind auch im Tierreich bekannt und sind, wie auch bei den Menschen, darauf ausgerichtet, Vorteile zu erlangen.

Ob die Verordnung, die zur Zeit Zwinglis erlassen worden ist, immer noch gilt? Jedenfalls haben wir, verglichen mit anderen Grossstädten, relativ wenige Bettler gesehen, nur ab und zu sprach uns einer an, den wohl sein Verlangen nach Suchtmitteln dazu gebracht hat.

Es ist nicht leicht, herauszufinden, ob ein Bettler wirklich bedürftig ist oder etwa einer Bettelbande angehört. Deshalb ist es vielleicht sinnvoller, Geld an anerkannte Institutionen zu spenden, bei denen man sicher sein kann, dass damit auch wirklich geholfen wird.

 


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