Textatelier
BLOG vom: 01.05.2017

Bin ich eine "Maschine Mensch", und was sagt "Gott" dazu?

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Was bin ich? Theist, Christ, Buddhist, Moslem, Hindu, Taoist, Atheist, Agnostiker, Deist, Pantheist, Realist, Rationalist, Existenzialist? Glaube ich oder glaube ich nicht, und was oder an wen? Interessiert es mich, berührt es mich oder lässt es mich (inzwischen) kalt? Will ich mich überhaupt "positionieren"? Mir gegenüber oder gegenüber meiner Umwelt? Stelle ich mir die Frage oder ist sie für mich beantwortet? Bin ich "fest der Überzeugung, dass ..."?

Eine dieser Fragen hat sich vermutlich jeder von uns schon einmal gestellt. Im fortgeschrittenen Lebensalter, wenn man erkennt, dass mehr als die Hälfte der möglichen Lebenszeit verflossen ist, stellen viele Menschen sich solche Fragen eher als im jugendlichen Alter.

Es sind einige der grundlegenden Fragen des Lebens, vor allem, wenn die existenziellen Fragen nach der Nahrungs- und Wohnungssicherung geregelt sind oder die Familienplanung abgeschlossen ist.
Möglicherweise haben die "gefestigten Charaktere" es einfacher als die Zweifler und die Skeptiker. Wenn mir jemand sagt, er stehe "fest in seinem Glauben", denke ich, "schön für ihn", aber ist er/sie deshalb beneidenswert?

Da spielt die Herkunft, die Erziehung, die Bildung, die Ablösung vom Elternhaus, die Beschäftigung mit der Religion und der Philosophie oft eine bedeutende Rolle. Manchmal aber einfach auch nur die Verdrängung der Fragen.

"Was geht`s mich an?" Diese Frage lasse ich nicht gelten, denn es geht jeden etwas an. Der Mensch ist zwar eine erstaunenswerte "Maschine", aber auch diese ist nicht allwissend,

so Julien Offray de la Mettrie:
"Was wissen wir mehr über unser Schicksal als über unseren Ursprung? Unterwerfen wir uns also einer unüberwindbaren Unkenntnis, von der unser Glück abhängt. - Wer so denkt, wird weise, gerecht, sorglos über sein Schicksal und folglich glücklich sein. Er wird den Tod erwarten, ohne ihn weder zu fürchten noch herbeizuwünschen. Und weil ihm das Leben teuer ist, weil er kaum versteht, wie der Lebensekel in dieser Welt voller Freuden ein Herz verderben kann, weil er voller Ehrfurcht, voller Dankbarkeit, Anhänglichkeit und Zärtlichkeit gegenüber der Natur ist, je nach dem Glück und den Wohltaten, die er von ihr empfangen hat, weil er schliesslich glücklich darüber ist, sie zu empfinden und bei dem bezaubernden Schauspiel der Welt anwesend sein, wird er sie zweifellos niemals in sich noch in anderen zerstören."

Dies schrieb der Autor im Jahre 1747, also vor 270 Jahren, in einer Zeit, in der solche Gedankengänge noch recht gefährlich für den Autor waren. Heute weiss man mehr über die Funktionsweise des menschlichen Körpers, über die Hirnfunktionen, über die chemischen Stoffe, die Auswirkungen auf unsere Psyche haben, ein Wort mit den üblichen Synonymen Seele und Geist. Dennoch muss man De la Mettrie zustimmen: Wir wissen noch nicht, warum in dem einen Körper die chemischen Stoffe Krankheiten hervorbringen, und im anderen nicht, warum unser Hirn so funktioniert, wie es über die Sinne bewusst wird oder nicht. Wahrscheinlich werden wir "die letzten Geheimnisse" nie erkunden können.

Was tun? Die obigen Fragen ignorieren und weiterleben? Ich meine, ganz so einfach kann ich mir das nicht machen, werde ich doch tagtäglich mit Auswirkungen religiöser Denkweisen und religiös motivierter Taten konfrontiert.

Also doch darüber grübeln? Sind es mehr als chemische Prozesse in meinem Körper, die mich dazu animieren? Wer kann das schon wirklich wissen? Genauso wenig wie ich wissen kann, ob ein wie auch immer definiertes Wesen, genannt Gott, existiert oder nicht und ob, und wenn ich dem zustimme, welchen Einfluss er/sie/es auf mein Leben hat!

Es ist spannend und mitreissend für mich, nachzulesen, was die Menschen, die in den vergangenen 3000 Jahren gelebt haben, sich dazu haben einfallen lassen, wie viele Gedankengänge, "Erkenntnisse", Glaubenssätze daraus entstanden sind und vor allem wie viele Richtungen, denn die eingangs erwähnten sind nur ein kleiner Teil davon.

Eine der Grundfragen ist, wie das Universum, und damit auch die Evolution bis zum Auftreten des Menschen entstanden sind.

Es gibt einen Astrophysiker mit dem schönen Namen John Richard Gott III, der in den 1980er Jahren die Idee hatte, dass das Universum aus dem Nichts durch eine Quantenfluktuation entstanden sein kann. Unverständlich für den Laien, der von der Kausalität überzeugt ist, also der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, der Abfolge aufeinander bezogener Ereignisse und Zustände, und dementsprechend davon ausgeht, dass aus nichts auch nichts kommen kann, ist diese Theorie. Es ist eine aus dem jetzigen Kenntnisstand begründete Annahme, die so lange gilt, bis sie falsifiziert wird, also deren Ungültigkeit wissenschaftlich mit immer besseren Gerätschaften nachgewiesen werden kann.

Das eine ist der Glaube, an dem nicht zu rütteln erlaubt ist; das andere die Wissenschaft, die um Fakten und Erkenntnisse ringt. Beides ist  mit dem menschlichen (Laien-) Verstand nicht (mehr) oder kaum noch zu erfassen.

Der Wissenschaftler Gott hat mit dem Gott der Gläubigen nichts zu schaffen. Letztendlich komme ich zu der Erkenntnis, dass es unmöglich ist zu beweisen, dass es diesen Gott gibt.  Ich bin kein Theist.

Aber eben so wenig kann ich  Atheist sein, der überzeugt ist, sicher davon zu sein, dass es den Demiurgen nicht gibt, weder am Anfang von allem, noch heute, noch in uns allen. Ich bin schon eher ein Zweifler und ein Agnostiker, jemand "ohne Wissen"; die Frage nach Gott bleibt also offen für mich, und der Glaube daran verschlossen.

Und so erfreue ich mich an der jetzt wieder vom Winterschlaf erwachenden Natur, an berauschenden Sonnenunter- und -aufgängen und an allem Schönen, was mir begegnet, also "an dem bezaubernden Schauspiel der Welt", ganz so wie La Mettrie es ausgedrückt hat.

Quelle
J.O.de La Mettrie, L'homme machine - Die Maschine Mensch, mit einer neuen deutschen Übersetzung und dem französischen Text, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1990

Siehe auch:
http://www.textatelier.com/index.php?id=996&blognr=4675

 


*
*    *

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst