Textatelier
BLOG vom: 15.11.2016

Der Bote

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London


“Bringe mir die Wahrheit, die ganze” befahl eines Tages in ausgelassener Laune der Junker und gab seinem Diener einen Silberling. “Die fehlt mir noch. Ich will sie zu meinen Schätzen legen.”

Der Diener eilte zum Markt. “Bei mir allein nur kriegst du die ganze Wahrheit”, beteuerte jeder Händler auf des Dieners Nachfrage. Bekümmert ballte der Diener die Faust um den Silberling und zog weiter.

Vor dem Kirchenportal sass der Bettler. Hat er sie auch nicht, so weiss er vielleicht, wo sie ist, dachte der Diener.

“Mein Gott, wenn es sie gäbe, trüge ich ein helles Gewand, statt der Fetzen am Leib”, sagte der Bettler und spuckte ihm vor die Füsse.

“Meine Güte”, lachte die Magd am Brunnentrog und klatschte die Hände zusammen: “Du willst die ganze Wahrheit! Nun sagt die Gnädige die halbe – merke dir – hab' ich schon die ganze und muss nicht ..." "Wo ist sie denn, die andere Hälfte?” fragte der Diener dazwischen. Die Magd fuhr fort “... und muss nicht zweimal raten. Ich wette, sie ist heute nicht zur Putzmacherin gegangen, sondern zu ihrem Galan.”

“Jammerschade”, murmelte der Diener und kehrte ihr den Rücken.

Draussen vor der Stadt hauste vergrämt ein Eremit und beantwortete des Dieners Frage: “Sag' deinem Herrn, so er zur Wahrheit kommen will, soll' er alle Schätze zu mir bringen, mein Sohn, und komme wieder, und ich werde meine Klause schliessen und deinem Herrn meine Dienste anbieten.”

Beim Einnachten stiess der Diener auf ein Trauergeleit. Müde und verzweifelt erkundigte er sich beim letzten Nachzügler nach der ganzen Wahrheit.

“Die Wahrheit, die ganze”, stockte dieser, “die tragen sie da vorne mit meinem Vater zu Grab. Nur er weiss, wer ihn seines Vermögens beraubt hat.”

Leichten Herzens trat der Diener vor seinem Herrn und berichtete: “Auf dem Markt bietet sie jeder Händler feil; der Bettler vor der Kirche kennt sie nicht, und die Magd am Brunnen macht aus der halben Wahrheit eine ganze. Der Eremit fordert, dass Sie ihm seine Schätze anvertrauen.

Doch hört das Läuten der Sterbensglocke! Sie bezeugt, dass ich eben der ganzen Wahrheit begegnet bin. Im Sarg wurde sie an mir vorbeigetragen und wird jetzt ins Grab gelassen. Dorthin müsst Ihr Eure Schätze legen, wurde mir geraten.”

Da erblasste der Junker.

(von Die Tat am 6.9.1971 publiziert)

 


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