Textatelier
BLOG vom: 08.05.2016

Jean Tinguely und wie aus Schrott, Trödel und Abfall Kunst wird

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Ein Kunstwerk steht am Ende eines kreativen Prozesses, einer Tätigkeit, die auf Intuition, Wahrnehmung, Vorstellung und nicht zuletzt auch auf Können beruht. Nach dieser Definition sind wir alle Künstler. Einige Künstler leben in einer Zeit, in der das, was sie an Kunst produzieren, anerkannt wird, was sich nicht zuletzt auch beim Wert des Kunstwerks ausdrückt oder daran, wie es den Geschmack einer grösseren Gruppe von Menschen anspricht. Es gibt Kunstwerke, die überdauern Jahrtausende und bleiben Kunst. Es gibt Kunstwerke, die nicht als solche angesehen werden und die sang- und klanglos verschwinden. Es gibt Kunstwerke, die erst lange nach ihrer Produktion eine Anerkennung erfahren. Dauerhafte Kunst steht meistens ausserhalb der Grundbedürfnisse des Menschen. Allerdings wird der Begriff vielfältig und schillernd interpretiert

Moderne bildende Kunst hat viele Facetten. Oft können Kunstwerke erst dann verstanden werden, wenn die Intentionen des Künstlers offenbart werden. Die Kunstwerke sprechen in jedem Betrachter andere Gefühle an, hinterlassen unterschiedliche Eindrücke, werden “verständlich” oder abgelehnt, weil sie sich dem Individuum verschliessen. Wenn man Kunst als ein Produkt ansieht, von dem der Betrachter glaubt, das “könne” er auch, wertet dieser die Kunst ab, denn “das ist keine Kunst!”

Diese Fragen habe ich mir gestellt, als ich mir die Werke von Jean Tinguely (1922-1991) angesehen habe. Als junger Mann machte er eine Ausbildung zum Dekorateur und besuchte dann eine Kunstgewerbeschule. Er interessierte sich sehr für Bewegung, denn im Grunde bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht. So kam er darauf, Skulpturen zu bauen, die sich bewegen. In vielen seiner Werke verarbeitete er ausgesonderte Metallteile, Trödel und Schrott, die er miteinander verband und durch Elektromotoren in Bewegung brachte. Es sind Maschinen, die nichts produzieren, sondern die sich bewegen, dadurch ihre Formen verändern, oft Lärm machen. Es gibt Maschinen, die irgendwo im Bewegungsprozess gemalte Bilder erzeugen.

In der Ausstellung im Kunstpalast in Düsseldorf ist eine grosse Maschine zu sehen, die in Basel beheimatet ist und für diese Ausstellung mit viel Aufwand nach Düsseldorf gebracht worden ist. Sie heisst “Grosse Meta-Maxi-Utopia” und wurde ursprünglich für eine Ausstellung in Venedig gebaut. Neben vielen Metallteilen und Schrott wurden ein Gartenzwerg, ein Schaukelpferd, einen Buddha, ein Bild von Venedig, Teile von Autos und Motorrädern, Metalltreppen, ja sogar ein Pissoir und vieles andere, was es zu entdecken gilt, integriert. Man kann das Kunstwerk über eine Metalltreppe besteigen, auch während die Elektromotoren es in Bewegung bringen.

Es ist “kunstvoll” zusammengeschweisster und -gefügter Schrott und Abfall.

 


Foto: R.G.Bernardy – Mit Dank an das Museum Kunstpalast, das die Veröffentlichung genehmigte.
 

Ein anderes Werk zeigt eine unter der Decke angebrachte grosse Platte mit einem merkwürdigen Sammelsurium von alten, aussortierten Alltagsdingen, löchrig, abgenutzt und ziemlich ärmlich. Wenn der Elektromotor angeschaltet wird, werden die Dinge beweglich, scheppern und hüpfen scheinbar “lebendig” hin und her. Man sieht arme Dinge, die tanzen, so erhielt die Arbeit ihren Namen “Das Ballett der Armen”, und damit die Bezeichnung eines Werkes, so wie es Besucher gesehen haben.

Das Poster, das diese Ausstellung ankündigt, zeigt eine lachende Dame auf einem Fahrrad. Sie trägt einen weissen Hut mit einem Netz vor den Augen und liest in einem Buch, das auf einem Ständer vor ihr liegt, statt eines Lenkers. Wenn man die Pedale tritt, setzt sich mit lautem Schepper ein Greifarm in Bewegung. An ihm ist ein Eisenstift befestigt, der kreisförmige Ritzspuren auf einer Metallplatte hinterlässt. Maschine und Besucher produzieren so eine Zeichnung.

In einem Raum stehen Maschinen, die, setzt man sie einmal in Bewegung, mit schrillen Geräuschen geisterhafte Schatten an die Wände werfen. Der Titel ist “Totentanz”. Die Einzelteile stammen aus einem niedergebrannten Bauernhof. Dort starben auch Tiere. Deren Schädel hat Tinguely mit eingebaut, sogar ein (nicht echter) Menschenschädel und der von einem Nilpferd drehen ihre Runden.

Würden diese Gebilde am Strassenrand stehen und auf den Abtransport durch die Müllabfuhr warten, niemand käme auf die Idee, sie als Kunstwerke zu betrachten, sieht man doch auf den ersten Blick nur Schrott, Abfälle und Unbrauchbares. Zusammengefügt und mit einer Funktion versehen, entstand daraus Kunst. Vielleicht war es immer schon ein Bedürfnis von (in den meisten Fällen) Jungen, irgend etwas zusammen zu bauen, was sich bewegt und was Spass macht. Tinguely hat daraus ein Lebenswerk gemacht. Seine Bastelei ist auch über seinen Tod hinaus sehenswerte “Kunst”.

 


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