Textatelier
BLOG vom: 06.01.2016

Victoria Hecht – Schwäbische Mystikerin aus dem 19. Jahrhundert

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH

 


"The grave of Victoria Hecht"
(Quelle: https://www.flickr.com/photos/89543661@N00/3728467509)
 

Victoria Hecht, am 17. Dezember 1850 im Hallerweiherhof bei Wolpertswende geboren, verstorben am 17. Februar 1890 in der ehemaligen Einsiedelei St. Gangolf in Wolpertswende, wurde als beim Volk eher als bei der damaligen Kirche anerkannte Dorfheilige für das mystische Leben im damaligen Schwabenland repräsentativ.

Säkularisation und Kulturkampf riefen im süddeutschen Raum, in der Schweiz, auch in Vorarlberg und im Tirol, volksfromme Gegenbewegungen hervor. Eine aufrüttelnde Rolle spielten dabei Stigmatisierte wie die Adlige Maria von Mörl aus Kaltern (1812 – 1868), die Drittordensnonne Maria Agnes Steiner von der Seite Jesus (1813 – 1862) aus dem Pustertal, die Weberin Marguerite Bays (1815 – 1879) aus dem Kanton Freiburg in der Schweiz und die Luzerner Seherin Anna Bühlmann (1821 – 1868). War die Tirolerin Maria Mörl durch die Besucher Clemens Brentano und Heiligenmaler Melchior Paul von Deschwanden über die Landesgrenzen hinaus bekanntgemacht worden, hatte es Viktoria Hecht, im Volksmund „Viktörle“ genannt, im stärker liberal und „josephinisch“ geprägten badischen Raum deutlich schwerer.

Der als „josephinistisch“ verschriene Dorfpfarrer Josef Anton Mühlebach und aus der Nachbarschaft der berühmte Feldprediger Johann Evanglist Göser trauten der stigmatisierten Fasterin nicht über den Weg. Der „grosse Zulauf“ neugieriger und wundersüchtiger Frommer, wohl aufgrund der Wundmale, wurde vom Ravensburger Stadtpfarrer und Dekan Lorenz Strobel „übel vermerkt“, weshalb er „der Sache absichtlich bis jetzt ferngeblieben“ sei.

Saulgaus Pfarrer Johann Evangelist Göser, nach der deutschen Einigung Reichstagsabgeordneter des Zentrums, zeigte sich wohl auch deswegen skeptisch, weil das mystische Leben der seit dem 17. Lebensjahr erkrankten Viktoria Hecht nicht durch Geistliche, sondern über die Propaganda der Devotionalienhändlerin und Reliquiensammlerin Crerszenz Halder, genannt „Kreszenzle“, im Volk bekannt gemacht worden war. Die rührige Berufsfromme aus Saulgau nahm es mit der Mündigkeit des Laien, einer sich im 19. Jahrhundert „populistisch“ gebärdenden Volksfrömmigkeit, ernster als es in der damaligen Männergesellschaft zugelassen war. Der Ruf weiblichen Sektierertums erwies sich seit dem Auftreten der berühmt-berüchtigten Pietistin Juliane von Krüdener (1764 – 1824), aus Württemberg und Baden regierungsamtlich ausgewiesen, in liberalen wie auch katholisch-konservativen Kreisen flächendeckend als unerwünscht.

Angesichts der Zurückhaltung, um nicht zu sagen Ablehnung bei den Geistlichen aus „Viktörles“ Umgebung verwahrte sich auch Pfarrer Friedrich Schurer, der Biograph der Guten Beth aus Anlass der Hundertjahrfeier ihrer Seligsprechung, gegenüber einer Nachahmung der „Perle Oberschwabens“, wie die Konzilsheilige von 1417 im Bistum Rottenburg-Stuttgart allenthalben verehrt wurde. Vikar Josef Fricker, der Helfer des Ortspfarrers, erregte mit einem missglückten Exorzismus Aufsehen um die fastende und stigmatisierte Bauerntochter von Wolpertswende. Davor musste sich Pfarrer Mühlebach dann distanzieren. Zeitweilig schien, von heute aus gesehen, Viktoria Hecht eher eine Vorläuferin der exorzierten Anneliese Michel (1952 – 1976) als eine Nachfolgerin der Guten Beth (1386 – 1420) gewesen zu sein. Kein Wunder, wurde von Geistlichkeit und Behörden eine Überstellung von „Viktörle“ in das „Irrenhaus“ von Schussenried erwogen. Dagegen wehrten sich ihre Eltern mit Erfolg. Die Gläubigen standen auf ihrer Seite. Der Ravensburger Oberamtsarzt Johannes Stiegele behandelte Victoria Hecht mit einer Elektroschock-Therapie, „dass es ein Pferd getötet hätte“. In seinem Bericht an den Dekan schrieb er: „Ich bin derzeit noch nicht in der Lage, ein klares Urteil abzugeben, nur dessen bin ich sicher, dass kein Betrug obwaltet.“

Victoria Hecht, das vierte von fünfzehn Kindern, entstammte einer schon im 18. Jahrhundert angesehenen Bauern- und Wirtefamilie. Die erste Kommunion empfing sie am Tag der Schulentlassung 1854. Das war zur Glaubensepoche der Marienerscheinungen in Lourdes und La Salette; nicht zu vergessen die Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariä 1855 durch Papst Pius IX. Das Dogma führte in liberalen Kreisen zu kulturkämpferischer Polemik. Andererseits machte sich beim Landvolk ein kompensatorischer Widerstand gegen Säkularisierung, Industrialisierung und allgemeine Entheiligung bemerkbar. Im Schweizer Dorf Merenschwand unweit der 1841 aufgehobenen Fürstarbtei Muri wollten Kinder gesehen haben, wie eine Statue des heiligen Leodegar, Patron von Luzern, zur Warnung vor bösen Zeiten „den Finger bewegt“ habe. Die Verbreitung einer solchen Nachricht wurde polizeilich unterbunden.

Bis 1815 gehörte der grösste Teil der Deutschschweiz wie fast der gesamt Bodenseeraum zum Bistum Konstanz. Die aufklärerischen Massnahmen des letzten Bischofsvikars Ignaz Heinrich Wessenberg, so die Abschaffung zahlreicher Feiertage und das Fällenlassen heiliger Bäume, stiessen auf dem Land auf wenig Gegenliebe. In Wessenbergischer Tradition zeigten sich bis 1848 und später relativ zahlreiche Geistliche dem liberalen Gedankengut aufgeschlossen. Für die nachfolgende konservative Gegenbewegung war der Priester und Kalenderverfasser Alban Stolz aus dem badischen Bühl, ein Vetter des Erfolgsautors Joseph Victor von Scheffel, repräsentativ. Aus dem Geist der Volkskirche offenbarte sich bei der Hundertjahrfeier zur Seligsprechung der Guten Beth in Reute (1867) noch einmal das barocke ständische Lebensgefühl. Die von Zehntausenden besuchte Prozession mit dem im Glassarg ausgestellten Leichnam der Seligen machte wie kaum ein zweites geistliches Ereignis im 19. Jahrhundert den Eindruck einer Wiedergeburt des vorrevolutionären Zeitalters.

Der Wirkung des geistlichen Grossanlasses auf das Volk im Zeichen der Guten Beth war gewaltig und nachhaltig. Für Viktoria Hecht und ihre Familie war Reute mit seinem Heiligengrab der Wallfahrtsort schlechthin. Zur Zeit des I. Vatikanischen Konzils und des anschliessenden Kulturkampfes liess sich Viktoria Hecht noch von den sogenannten Muttergotteserscheinungen bei drei Kindern im saarländischen Marpingen (1876) bewegen. Als Stigmatisierte stand sie für deren Echtheit ein. Die Marienerscheinungen erneuerten sich, vor erwachsenen Frauen, im Jahre 1999. Kardinal Reinhard Marx dekretierte, es handle sich keineswegs um übernatürliche Vorgänge. Im Beschluss des Erzbischofs manifestiert sich derselbe Geist kirchlicher Aufklärung, der in Wolpertswende schon 1869 zum Ausdruck gekommen war. Die Kirche stand vor dem Dilemma, es beiden Seiten recht machen zu müssen. Den Wundergläubigen und Volksfrommen einerseits; andererseits wollte man sich nicht als leichtgläubig und unaufgeklärt blamieren, was auch politisch hätte gefährlich werden können.

Victoria Hecht gab zu ihrer Zeit mit ihrem mystischen Leben ein Beispiel, dass eine Schwerkranke, noch dazu eine Frau, nichtsdestotrotz ein wichtiges Glied der Gesellschaft sein kann, entgegen der Prioritäten eines neuen, einseitig auf Nützlichkeit ausgerichteten Zeitgeistes. Dass ihr Kultstatus zu Lebzeiten und noch Jahrzehnte nach ihrem Ableben ausgerechnet durch den Nationalsozialismus abgewürgt wurde, gibt aus heutiger Sicht zu denken und ist mutmasslich mit ein Grund, warum seit 2009 in ihrer Pfarrei ihr Andenken wieder vermehrt gepflegt wird. Bei allen Unterschieden zu Elisabeth Achler, deren Bezug zu Katharina von Siena und zum Reformbedarf der mittelalterlichen Kirche nachweisbar ist, war für eine spirituelle Existenz in der Art von Victoria Hecht zwischen 1863 und 1890 ein Zeichen der Erwählung noch fast so unentbehrlich wie für eine Heilige des Mittelalters. Frauen des 21. Jahrhunderts - man denke an die Provokateurinnen der russisch-orthodoxen Kirche („Pussy Riot“) - haben andere Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Blutmystik, die manchmal bis über die Grenze der Selbstquälerei Leiden auf sich nimmt, scheint heute unheimlicher als Blasphemie, für die neuerdings der Schutz bedingungsloser Meinungsfreiheit beansprucht wird.

Victoria Hecht, durch zwei Arbeitsunfälle als Bauernmagd seit 1857 schwer lädiert, ab 1863 nicht mehr arbeitsfähig, musste während beinahe dreier Jahrzehnte das Bett hüten. Kopfweh, Seitenstechen, eine grosse Geschwulst im Magenbereich, von den Ärzten als Wassersucht diagnostiziert, raubten ihr Schlaf und Appetit. Ab 1867 konnte sie auch kaum mehr stricken. Die Sinngebung ihres Lebens konzentrierte sich, nach dem Vorbild der Guten Beth, auf die Betrachtung des Leidens Christi und das Gebet. Ab 1868 ergab sie sich der heiligen Anorexie. Zu ihren Anfechtungen gehörte, dass ihr Körper oft grün und blau geschlagen war, was möglicherweise aber auf Misshandlungen durch ihre Schwester Anna zurückzuführen ist. Im November 1869 liess sie sich vom Ortspfarrer zu einer Krankenwallfahrt zur Guten Beth nach Reute fahren. Ihrem Wunsch, in den Dritten Orden des heiligen Franziskus aufgenommen zu werden, entsprach Regelpfarrer Dr. Engelbert Hofele aus Ummendorf gegen den Einspruch von Reutes Wallfahrtspriester Friedrich Schurer. Dekan Karl Stempfle stellte in Abrede, dass es sich bei Viktörle um aussergewöhnliche und übernatürliche Vorgänge handle. Der Ortspfarrer wurde nachträglich für diese Wallfahrt getadelt. Pfarrer Mühlebach schätzte sie fortan wieder als „gewöhnliche Kranke“ ein, verweigerte der Fasterin die tägliche Hostie. Er vermutete in ihren Krämpfen „Folgen eines hysterischen Zustandes“. Die Seelsorge an der Kranken überliess er weitgehend seinen Stellvertretern. An seinem Todestag, einem Sonntag, soll er jedoch dem „Viktörle“ eine Hostie überbracht haben.

Dass Victoria Hecht mit ihren Eltern und ihrer Schwester Anna in die ehemalige Einsiedelei St. Gangolf übersiedelte, machte die Kranke ab 1870 zur Dorfheiligen mit grosser Ausstrahlung und einem Zulauf, der aus kirchlicher Sicht längere Zeit als Ärgernis angesehen wurde. Der mutmassliche Glücksfall einer einfühlsamen geistlichen Betreuung, wie sie Conrad Kügelin gegenüber Elisabeth Achler geleistet hatte, ergab sich für Victoria Hecht 1874. Damals war Pater Max Homburger, der Spiritual des Klosters zum Kostbaren Blut Jesu in Schellenberg (Fürstentum Liechtenstein), als Aushilfspriester ihr Betreuer in Wolpertswende. Er kleidete sie 1874 in die Tracht des Dritten Ordens vom Kostbaren Blut Jesu ein. Die Stigmatisierte hielt dieselbe bis zu ihrem Tod an. Zu ihren Gebetsanliegen gehörte im Sinn mystischer Abgeschiedenheit fortan das Verschwinden der Stigmata. 1876 war es so weit. Die Wallfahrtstradition blieb nichtsdestotrotz aufrecht. Dass ihre Familie, zumal ihre Schwester Anna, davon leben konnte, war für kritisch Denkende ein Ärgernis. Ein ähnlicher Befund liess sich jedoch schon zu Lebzeiten des heiligen Bruder Klaus von Flüe nachweisen. Trinkgelder und Spenden für dessen Familie, die er nie verlassen hat, wurden mehr und mehr üblich. Der jüngste Sohn von Klaus konnte auf dieser Grundlage als erster aus seinem Kanton an der Sorbonne studieren.

Die Umstrittenheit der kirchlich nie anerkannten Dorfheiligen „Viktörle“ offenbarte sich abermals bei ihrem Ableben am Rosenmontag 1890. Dass ihre Schwester Anna gleich von Anfang an auf ein Ehrengrab bei den Priestern pochte, sie in einem Zinksarg beerdigen lassen wollte, verstiess gegen die Friedhofordnung. Wie in den 1890-er Jahren um „Etliche Centimeter weiter links“ bei der Grabstätte gefeilscht wurde, mit gerichtsnotorischen Streitigkeiten, grenzte an eine Dorfposse. Dabei stand Dekan Lorenz Strobel im Dilemma, die Verstorbene vor einer riesigen Menschenmenge würdig abzudanken, ohne gleichzeitig dem Urteil der Kirche vorzugreifen. Eine Tote im Ruf spiritueller Erwählung zu preisen war für Glauben und Kirche mutmasslich ein Segen. Dekan Strobel setzte jedoch klare Prioritäten:

Durch Taten der Liebe wird Gott mehr verherrlicht als selbst durch Zeichen und Wunder, die seine Auserwählten etwa wirken können. Nicht Wunder, sondern die Übung der Gottseligkeit dient zum Heil. Übrigens war sie (Victoria) weit entfernt, etwas Besonderes aus sich zu machen. „In allem wie stiller wie besser“ war hierin ihr Wahlspruch.

 
 
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