Textatelier
BLOG vom: 16.12.2014

Erhellendes: Der schöne Schein und der erloschene Stern

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Der aus Berlin stammende Richard Platz, der in Dänemark weilt, warf im Jahr 1913 eine Flaschenpost ins Meer und hat auf einer dänischen Postkarte, die er hineingelegt hat, geschrieben, der Finder möge die Karte zu ihm nach Berlin zurückschicken. Ein Fischer findet die Flasche 2014 in seinem Netz, und ein Familienforscher macht eine 62-jährige Enkelin ausfindig.
 
Diese Art von kleinen Nachrichten findet man ab und zu in den Medien. Nicht nur Flaschen werden nach langer Zeit aus dem Meer gefischt, auch über Karten und Briefe, die Jahrzehnte benötigten, bevor sie den in der Anschrift genannten Ort erreichten, wird berichtet. Ein Beispiel ist der Brief, der 1951 in Flensburg aufgegeben worden war und erst 2013 den Bestimmungsort in der Grafschaft Buckinghamshire in England erreichte.
 
Sowohl der Versender der Nachricht als auch der genannte Empfänger sind dann längst verstorben. Vielleicht leben noch Nachfahren, vielleicht gibt es noch ein Grab, doch die Personen gibt es nicht mehr.
 
In diesen beiden Fällen sind es Jahrzehnte, die zwischen dem Absenden und der Ankunft vergangen sind.
 
Gedanken zum Fest
Es ist eine klare Nacht. Der Mond ist nur als schmale Sichel zu sehen. Sie befinden sich ein wenig ausserhalb des Orts auf einem Feld und heben den Blick zum Himmel. Tausende von Lichtern sind zu sehen, manche flackern, viele leuchten ruhig.
 
Es ist Licht, das nicht nur Jahre, sondern viele Lichtjahre braucht, bis es von der Erde aus sichtbar ist. Sie erinnern sich, dass Licht sich mit einer Geschwindigkeit ausbreitet, die für die menschlichen Sinne unvorstellbar hoch ist, mit 299 792 458 m pro Sekunde, fast 300 000 Stundenkilometer.
 
Wir schauen zum Himmel. Der flackernde Stern dort, wann sandte er sein Licht ab? Wie lange war die Reise, bis das Licht unser Auge erreichte? Gibt es den Absender überhaupt noch? Wir wissen es nicht.
 
Gottfried Keller (1819‒1890), ein Schweizer Dichter:
 
Siehst Du den Stern
Siehst Du den Stern im fernsten Blau,
der schimmernd fast erbleicht?
Sein Licht braucht eine Ewigkeit,
bis es dein Aug’ erreicht.

Vielleicht vor tausend Jahren schon
zu Asche stob der Stern,
und doch steht dort sein milder Glanz
noch immer still und fern.

Dem Wesen solchen Scheines gleicht,
der ist und doch nicht ist,
oh Lieb dein anmutvolles Sein,
wenn du gestorben bist.
 
Wir sehen das Licht des Sterns leuchten und wissen doch nicht, ob es den Absender noch gibt. Ist es nicht so, wie die oben berichteten Funde der Flaschenpost und des Briefs? Der Fischer und der Empfänger hielten sie in den Händen, und doch waren es letzte Lebenszeichen längst Verblichener.
 
„Unverhofftes Wiedersehen“
Die letzten Zeilen des Gedichts erinnern mich an den alemannischen Mundartdichter Johann Peter Hebel (1760‒1826) und an seine Erzählung „Unverhofftes Wiedersehen“: Ein junger Bergmann aus Falun in Schweden will seine Braut am Tag der Wintersonnenwende, dem Lichterfest, heiraten. Doch wenige Tage vorher kehrt er nicht aus dem Bergwerk zurück. Etwa 50 Jahre später findet man seine konservierte Leiche.
 
„Niemand kennt ihn, denn seine Verwandten sind lange tot. Doch da tritt, ‚grau und zusammengeschrumpft’, an einer Krücke jene alte Frau hinzu, die sich mit ihm vor 50 Jahren verlobt hat. Sie sinkt ‚mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz auf die geliebte Leiche nieder’ und dankt Gott dafür, dass sie ihren Bräutigam noch einmal sehen darf. An der Beerdigung nimmt sie in ihrem Sonntagsgewand teil, ‚als wenn es ihr Hochzeitstag … wäre’. Als man den Leichnam auf dem Kirchhof ins Grab legt, sagt sie: ‚Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitsbett, und lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag’“ (zitiert nach Wikipedia).
 
Die Geliebte durfte ihren Verlobten noch sehen, und es wird ihr warm ums Herz. Den Stern, den wir bestaunen können, oder besser sein Licht, können wir noch Millionen von Jahre nach dem Erlöschen sehen! Er leuchtet über seinen Tod hinaus, und erfreut die Herzen.
 
Der als der bedeutendste geltende rumänische Dichter Mihai Eminescu (1850‒1889) hat das obige Gedicht von Gottfried Keller als Anregung genommen, 1886 seine Version zu schreiben. Er nannte das Gedicht: „Zum Stern“:
 
La steaua care a rãsãrit
E-o cale atît de lungã,
Cã mii de ani i-au trebuit
Luminii sã ne-ajungã.

Poate de mult s-a stins în drum
în depãrtãri albastre,
Iar raza ei abia acum
Luci vederii noastre.

Icoana stelei ce-a murit
încet pe cer se suie;
Era pe cînd nu s-a zãrit,
Azi o vedem, si nu e.

Tot astfel cînd al nostru dor
Pieri în noapte-adîncã,
Lumina stinsului amor
Ne urmãreste încã.
 
Rumänisch ist eine romanische Sprache, und der Leser, der einer dieser Sprachen, sei es französisch, italienisch, spanisch oder portugiesisch, mächtig ist, wird das Gedicht vielleicht verstehen. Ich hänge die deutsche Übertragung von Alfred W. Tüting von 1994 an:
 
Zum Stern, der gerade aufgetaucht,
Der Weg ist lang und seicht,
Es viele tausend Jahre braucht
Bis uns sein Licht erreicht.
 
Vielleicht erlosch schon längst sein Schein
Durch blaue leuchtend’ Sterne.
Nur noch sein Strahl so schön und rein
Flimmert jetzt aus der Ferne.
 
Des toten Sternes Bild so nah
Erklimmt des Himmels Licht
Er war, als man ihn noch nicht sah,
Heut’ sehn wir ihn… ist nicht.
 
Gleich unsrer Wehmut, wie ein Dieb,
Verschwand im dunklen Glimmer
Das Licht der uns erloschnen Lieb,
Verfolgt uns heut noch immer.
 
 
Die Dichter leben schon lange nicht mehr, aber ihre Gedichte sind noch da und „erleuchten die Herzen“.
 
Vergängliches
Wir sehen hinauf ans Firmament und denken daran, dass nicht nur wir vergänglich sind. Aber auch daran, dass nicht alles, was leuchtet, noch immer vorhanden ist. Und dass vieles, was scheint, nicht (mehr) da ist.
 
Das Licht ist real, wir sehen etwas. Nur der Stern, der es aussendet, ist vielleicht nicht mehr da, ist vergangen, ist Erinnerung.
 
Gerade jetzt, zur Weihnachtszeit, erinnern sich viele Menschen daran, wie es war, als sie Kind waren. Für das Kind gab es den Weihnachtsmann oder das Christkind wirklich. Die Geschenke liegen doch unter dem Baum? Nur der Glaube daran, der ist längst abhanden gekommen.
 
So kann vieles eine Illusion sein. Wissen wir, ob es wirklich ist oder nur Schein? „Dem Wesen solchen Scheines gleicht, der ist und doch nicht ist.“
 
An Tagen wie Weihnachten möchten viele Menschen der harten Wirklichkeit entfliehen. Die Familie kommt zusammen und die quälende Erinnerung an die als unglücklich empfundene Kinderzeit wird einfach im Schein der Kerzen des Weihnachtsbaumes ausgeklammert.
 
Nur die schönen Momente zählen. Sie leuchten aus der Vergangenheit herüber. Und was war, ist längst vorbei!
 
 
Quellen
 
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