Textatelier
BLOG vom: 27.11.2014

Sammelleidenschaft und Einfrieren biologischer Materie

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Das Folkwang Museum in Essen D zeigt zurzeit mehrere Sonderausstellungen. Der Publikumsmagnet heisst „Monet, Gauguin, van Gogh…Inspiration Japan“. Es geht um die französische Kunst im Zeitraum von 1860 bis 1910 und die Rezeption japanischer Kunst in Frankreich. Zahlreiche Gemälde haben denn auch einen Bezug zu Japan.
 
Die Ausstellung ist sehenswert. Sie vermittelt interessante Einblicke. Eine Reihe der Bilder sind sehr bekannt.
 
Die andere Sonderausstellung interessierte mich noch mehr. Das ist die Ausstellung des Schweizer Fotografen Yann Mingard (*1973) mit seinem Projekt, das er „Deposit“ nennt. Er stellte sich Fragen um die Sammelwut der Menschen von heute: Sie sammeln und archivieren menschliche DNA, Zahnproben, Sperma; Erbgut von Tieren, sogar von solchen, die in der freien Natur bereits ausgestorben sind; Saatgut aller möglichen Pflanzen dieser Welt und viele andere Daten, welche die Nutzer des Internets hinterlassen. Mingard fragte sich, was sich hinter diesem obsessiven Sammeln von Daten verbirgt. Sind es Menschheitsphantasien? Ist es ein Unbehagen über das Verschwinden religiöser Rituale? Ist es ein Schritt auf dem Weg zu einem künstlichen Menschen?
 
Mingard zeigt vornehmlich Schwarzweissbilder, die verstören und irritieren.
 
Auf dunklen Fotos sieht man Eingänge zu Saatgut-Tresoren und -Laboratorien, Räume und botanische Gärten für Samen, konservierte, bereits ausgestorbene Pflanzen aus der ganzen Welt, beispielsweise in vitro Bananenkulturen aus der Katholischen Universität von Leuven in Belgien; Samenbanken, die im Permafrostboden 120 m unter der Erde in Spitzbergen/Norwegen oder Saatbanken, die hinter dicken Metalltüren des Agroscope Changins-Wädenswil ACW in der Schweiz lagern. Ich sah ein Foto eines „sterilen Bereichs zur Beobachtung von Pflanzenkulturen“ des N.T. Wawilow Research Institute of Plant Industry in Sankt Petersburg, Russland, in dem Pflanzen „kryokonserviert“ wurden. Unter diesem Begriff, der sich aus griechisch „kryos“ für Kälte und lateinisch „conservare“ für Bewahren und Erhalten ableitet, versteht man das Einfrieren von Gewebe oder Zellen in flüssigem Stickstoff.
 
Bananenkulturen werden konserviert und daraus werden Meristeme gewonnen, also biologisches Gewebe aus undifferenzierten Zellen, die sich durch Zellteilung vermehren. Die Universität in Leuven führt Forschungsarbeiten damit durch. Ziel ist es, eine beliebte Bananensorte, die „Cavendish“, die durch einen Pilz befallen war, durch eine Neuzüchtung zu ersetzen. Der Pilz, die sogenannte Panamakrankheit, hatte 1940 bereits den Vorgänger dieser Bananensorte, die „Gros Michel“ befallen und ist nach 70 Jahren wieder zurückgekehrt.
 
1986 wurden in einem Wrack bei den Solomon Inseln im Pazifik Samen gefunden, die 200 Jahre alt sind. Das Le Conservatoire Botanique National de Brest in Frankreich versucht, aus diesen Samen wieder lebendes Gewebe zu extrahieren, um ausgestorbene Wildpflanzen für die Zukunft aufzubewahren und nachzüchten zu können.
 
Es sind bei weitem nicht nur pflanzliche Materialien, die aufbewahrt werden.
 
Einige Fotos sind der Pferde- und Rinderzucht gewidmet. Man sieht in einer Hallenecke eine Stutenattrappe zur Sperma-Gewinnung, die aussieht wie ein Pferdekörper ohne Kopf und Beine mit einem herausragenden Stiel, die im Französischen Pferde und Reit-Institut (Nationale Zuchthengstform) Landivisiau fotografiert worden ist, ein dunkles Schwarzweiss-Foto, nur durch einen Spalt des Hallentors und einiger unter dem Dach gelegener Fenster gespenstig beleuchtet. Die Beschreibung weist aus, dass mittels dieser Attrappe das gefrorene Sperma des grauen Hengstes Mylord Carthago, „ein im Jahre 2000 geborenes Springpferd und europäischer Vizemeister“, einer begrenzten Anzahl von 50 Kunden zum Preis von je € 3000 zur Verfügung gestellt worden sei, jeweils ein 0.5-ml-Röhrchen mit einem Ejakulat, das 50 Millionen Spermien enthielt. Daneben sieht man ein Foto, auf dem gezeigt wird, wie ein Hengst, nur noch auf den Hinterbeinen stehend, auf einer Attrappe sein Sperma abgibt, vom menschlichen Gehilfen dieser intimen Prozedur sieht man nur einen Arm und eine Hand, und der Pferdekopf ist unsichtbar, ausserhalb des Fotos. Im Schweizerischen Nationalgestüt in Avenches wird Hengstsperma mit teilentrahmter Milch verdünnt und unter Zugabe eines Antibiotikums tiefgefroren, eines unter 190 000 Röhrchen mit Sperma von 687 Hengsten. Ein anderes Foto zeigt eine künstliche Vagina, die „alle natürlichen Reaktionen der Pferdestute während des Koitusses“ zeigt, um eine schnelle, vollständige und unkontaminierte Ejakulation zu erreichen. Ein Foto bildet 3 Mitarbeiter ab, über das kaum erkennbare Hinterteil eines jungen Hengstes gebeugt, bei der Kastration. Das Tier ist ohne die Beschreibung der Handlung nicht identifizierbar, denn man sieht nur einen Teil davon.
 
Auf einem Foto werden 2 Kühe bei der Kopulation in einer Deckstation in Creavia, Saint-Aubin-du Cornier, Frankreich, gezeigt. In dieser Deckstation starb 2012 der Superbulle Jocko Besné, mit dessen Sperma weltweit mehr als 350 000 Milchkühe gezeugt worden sind.
 
Der nächste Schritt nach den Pflanzen und Tieren sind menschliche Spermien, Leichenteile und anderes. Auf einem Foto sieht man das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau. Es wird beschrieben, dass dort der einbalsamierte Leichnam Lenins seit 1924 zur Schau gestellt wird, sein Gehirn aber entfernt und in 30 000 dünne Scheiben zerlegt worden sei, „für wissenschaftliche Untersuchungen“.
 
In der Nähe von Moskau, in Alabschewo, gibt es ein KrioRus genanntes Unternehmen, das sich auf die Kryokonservierung menschlicher und tierischer Leichname in flüssigem Stickstoff spezialisiert hat, in der Hoffnung, dass es der Wissenschaft bald gelingen werde, sie wieder zum Leben zu erwecken, und sie unsterblich zu machen. Für knapp 2000 Euro kann man bei der Future Health Biobank (FHB) in Nottingham/GB dentale Stammzellen konservieren lassen, die die Familie wieder anfordern kann, wenn ein Kind medizinisch behandelt werden muss. Und so geht es weiter, in russischen, isländischen, dänischen, schweizerischen und schwedischen Instituten werden menschliche Spermien, Nabelschnurblut, Blutproben und menschliche Gehirne tiefgefroren und aufbewahrt.
 
Das Thema ist hochaktuell: Vor einigen Tagen stand in der Zeitung, dass IT-Firmen wie Microsoft, Apple und Facebook ihren Mitarbeitern anbieten, Eizellen für eine spätere Verwendung einfrieren zu lassen, um die Arbeitskräfte nicht für 1 bis 2 Jahre entbehren zu müssen, denn die Branche ist so schnelllebig, dass sie dabei den Anschluss verlieren würden. Facebook übernehme sogar die Kosten dafür, wird berichtet, obwohl es nicht sicher sei, dass bei späterer „Verwendung“ eine Schwangerschaft garantiert ist.
 
In Science-Fiction-Filmen und Romanen wurde schon vor Jahren die Idee entwickelt, menschliches Sperma und Eizellen auf die Reise in den Weltraum zu schicken, um sie auf anderen, für den Menschen geeigneten besiedelbaren Planeten in künstlichen Gebärmuttern als Fötus wachsen zu lassen, „bemuttert“ von menschenähnlichen Robotern.
 
Denkbar ist das alles, und die Technik, die so etwas ermöglichen kann, schreitet unaufhaltsam fort. Und – was technisch möglich ist, wird auch irgendwann einmal realisiert, allen ethischen, religiösen und humanistischen Bedenken zum Trotz.
 
Letztendlich geht es um profitorientierte Verwertbarkeit, die anscheinend auch vor dem Menschen nicht Halt macht. Und es geht um Macht. Mir fällt die Zeile in Lobgesängen beider christlicher Konfessionen ein, die Gott als „Herr über Leben und Tod“ preisen. Ist es nicht auch ein Beweis dafür, dass es kein göttliches Wesen gibt, das über die menschlichen Wesen „wacht“, wenn der Mensch diese Macht, über Leben und Tod zu bestimmen, selbst in die Hand nehmen kann?
 
Yann Mingard  dokumentiert noch eine andere Sammelwut, die der Datenspeicherung. Das Mount10 in Saanen-Gstaad BE, Schweiz, bekannt als Schweizer Fort Knox, wird gezeigt: der Eingang und die Gänge der Bunker, in der nicht nur Firmen, sondern auch Privatpersonen archiviertes Material deponieren können, in Felsen gehauen, wie auch das Datenzentrum Bahnhof.se in Stockholm in Schweden. Letzteres sei so konstruiert, dass es selbst einer Atomexplosion standhalten würde, heisst es.
 
Danach kann man davon ausgehen, dass sie und auch die von der NSA und anderen Geheimdiensten gesammelten Daten viele Jahrzehnte später noch vorhanden sein werden. In einigen Jahrhunderten werden sie Archäologen, die die dann veraltete Technik wieder aktivieren können, zur Forschung dienen können.
 
Wenn schon kein „ewiges Leben“, dann soll zumindest „etwas“ bewahrt werden! Das lässt sich (noch?) nur mit Expertenwissen realisieren. Doch was legitimiert diese Experten dazu? Gibt es eine „Moral Economy of Science“, gibt es ein Einverständnis der Öffentlichkeit dazu? „Wir sind herausgefordert, uns dazu Gedanken zu machen“, lautet der Schlusssatz der Einführung in diese Ausstellung.
 
Quellen
Broschüre zur Ausstellung „Deposit: Yann Mingard“, hrsg. von Janser, Daniela, Seelig, Thomas und Ebner, Florian, durch das Fotomuseum Winterthur (Zürich)/CH und das Museum Folkwang, Essen/D 2014, darin auch der Hinweis auf Daston, Lorraine, „The Moral Economy of Science“, in: Osiris, Nr. 10, 1995, S. 3-24.
 
 
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