Textatelier
BLOG vom: 25.02.2013

Demokratie, Ansprüche: Bibersteiner Zehnmillionentempel

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die Demokratie ist gewiss eine erstrebenswerte Staatsform, weil im Gegensatz zur Monarchie (Herrschaft eines Einzelnen) und zur Aristokratie (Herrschaft weniger Auserwählter) die Macht bei allen Bürgern liegt, woraus die grösstmögliche mittlere Zufriedenheit resultieren soll. Dabei kann natürlich nicht jeder Bürger die oberste Verfügungsgewalt beanspruchen, sondern es gilt, herauszufinden, was die Mehrheit will. Auf dem Weg dorthin braucht es gewisse Strukturen, vor allem zwischengeschaltete Räte, die gewählt werden, Geschäfte vorbereiten und als Volksvertreter agieren. Der dafür zuständige, aber wenig angewandte Begriff lautet Rätedemokratie: ein System aus gestaffelten Vertretungsgremien als halbdirekte Demokratie. In der Schweiz sind dies Gemeinde- oder Stadträte und allenfalls Einwohnerräte auf Gemeindeebene, Regierungs- und Kantons- oder Grossräte auf Kantonsebene und schliesslich Bundes-, Stände- und Nationalräte auf nationaler Ebene. Weil alle massgeblichen Parteien in der Regierung vertreten sind, spricht man auch von einer Konkordanzdemokratie. Dementsprechend ist das Wahlrecht bedeutungsvoll. Über Ermächtigungsgesetze können Demokratien lahmgelegt oder abgeschafft werden. Dann bilden sich Scheindemokratien nach US-Muster heraus.
 
Das ordentliche Stellvertretungssystem birgt akute Gefahren in sich: Die mit einer gewissen Macht ausstaffierten Räte wollen meistens länger im Amt verweilen, die höheren Weihen geniessen. Doch ist ihre Amtsdauer beschränkt, so dass es also zu Wiederwahlen kommt, die für den Einzelnen gelingen können oder auch nicht. Nicht wiedergewählt zu werden, beschädigt den Ruf. Ist ein Stellvertreter vor allem auf seine eigene Karriere (eingebettet in eine bei Wahlen gut abschneidende Partei) bedacht, wird er allen möglichen Wünschen und Massentrends nachgeben, um seine Beliebtheit zu vergrössern. Politiker aber, die eine profilierte, auf das Allgemeinwohl ausgerichtete Haltung haben, Führungsstärke zeigen und auch einmal nein sagen, gefährden ihre eigene Wiederwahl. Zur Medieneinfalt, die die Politik begleitet und beeinflusst, gehört heute, dass gelegentlich Beliebtheitsrankings in die Welt gesetzt werden. Meistens sind die Politiker, die dabei am hinteren Ende der Rangliste landen, jene, die sich fürs Gesamtwohl einsetzen, mit Weitblick gesegnet sind und auch einmal gegen Luxusbedürfnisse auftreten.
 
Solche Zusammenhänge wurden mir am 22.02.2013 an der Gemeindeversammlung meines Wohnorts Biberstein (Bezirk Aarau, AG) bewusst, als es galt, über ein Mehrgenerationen- beziehungsweise Jahrhundertprojekt Beschluss zu fassen: über einen Baukredit von 10,575 Mio. CHF für die Erweiterung der Schulanlage, die energetische Sanierung des bestehenden Schulhaustrakts und der Turnhalle und den Hochwasserschutz (die alte und kommende neue Anlage stehen im Grundwassergebiet des Aaretals, dort, wo früher noch die Aare mit ihren Mäandern das Landschaftsbild belebte, ja, zu einem grandiosen Schaustück machte). Biberstein hat sich von einem mausarmen Ort zur wohlhabendsten Gemeinde im Bezirk Aarau entwickelt: Gute Steuerzahler liessen sich am Sonnenhang nieder.
 
Für die 1325 Einwohner (Stand Ende 2012) ist ein 10-Millionen-Bauwerk ein gigantisches Werk. Es ist selbst in leicht abgespeckter Form (5 statt der ursprünglich vorgesehenen 6 Schulzimmer) nicht frei von Luxus – so werden ein grosser Raum mit Küche für die sogenannten Tagesstrukturen (Abgabemöglichkeit von lästigen Kindern, welche sonst die Berufskarriere der Elternteile behindern würden), ein Gruppen- und ein Therapieraum, eine Aula mit grosszügigem Foyer usf. hingeklotzt. Wenn es gut geht, wächst der Bedarf an Bedürfnissen. Es hat nur noch gefehlt, dass auch ein Raum fürs Komasaufen mit Ausnüchterungszelle neben einem Arztraum für Erste Hilfe vorgesehen worden wäre ... Das blieb uns noch erspart.
 
Die von 101 Personen besuchte Gemeindeversammlung hat nach einer ausführlichen Vorstellung des Projekts durch den zuständigen Ressortchef, Gemeinderat Rolf Meyer, dem Riesenkredit einhellig zugestimmt; ich habe mich der Stimme enthalten, erstens, weil mir die Sache zu opulent scheint, und zweitens, weil ich mich ausserhalb des zeugungsfähigen und -willigen Alters nicht mehr in schulische Belange einmischen will.
 
Der Gemeinderat (Exekutive) kaute offensichtlich selber schwer an dem Gewaltsbrocken, und die Metapher vom randvollen Fass rutschte dem Gemeindeammann Peter Frei, der die 5 Jahre dauernde Projektgeschichte an vorderster Front erlebt hatte, mehrmals über die Lippen. Mit diesem Bauwerk, das gemäss neuem Rechnungsmodell innert 35 Jahren abgeschrieben wird, bedeutet selbstverständlich eine Teilverwüstung der steuerparadiesischen Verhältnisse in Biberstein – wahrscheinlich werden die Gemeindesteuern um 4 bis 6 Prozent angehoben werden: „Ob eine weitere Anpassung notwendig ist (steigende gebundene Ausgaben), kann im Moment nicht prognostiziert werden“ (aus der Botschaft des Gemeinderats ans Stimmvolk). „Werden wir nicht übermütig“, mahnte der Ammann, „bleiben wir bescheiden“. Falls das mit Genügsamkeit etwas zu tun hat.
 
Damit das Fass nicht gar die Metallreifen sprengte und aus allen Fugen platzte, beantragte der Gemeinderat, auf den ursprünglich ebenfalls noch vorgesehenen Neubau eines Mehrzweckraums für zusätzlich 1,75 Mio. CHF zu verzichten.
 
In einem gescheiten und vorausschauenden Votum mahnte Vizeammann Markus Siegrist angesichts der grössten Investition, welche die Gemeinde Biberstein je hatte, wenigstens in Bezug auf den Mehrzweckraum zur Zurückhaltung. Er verwies auf die vielen Unbekannten hinsichtlich der Entwicklung der zukünftigen Steuererträge und Kapitalkosten, an weiter anstehende Grossaufgaben, erinnerte an Aargauer Gemeinden, in denen die Finanzen aus dem Ruder liefen (an die Nachbargemeinde Rohr, die dann in Aarau mit seinen Expansionsgelüsten eingemeindet wurde, an Oftringen und Unterkulm). Siegrist appellierte in Übereinstimmung mit der übrigen Gemeindebehörde ans längerfristige Verantwortungsbewusstsein für die Gemeindefinanzen.
 
Mich beeindruckte diese von Weitsicht untermauerte Haltung: Der Gemeinderat trat auch als Kollektiv nicht als Gremium aus Weihnachtsmännern auf, die sich beliebt machen und der Kinderschar jeden Wunsch von den Augen ablesen und erfüllen wollen. Das Nein-Sagen ist für Behördenmitglieder immer schwieriger und undankbarer als das Nachgeben, dessen Folgen ja meistens auf Kosten nachfolgender Generationen gehen. Und wenn Politiker genügend angerichtet haben, können sie ja zurücktreten, die Scherbenhaufen den Nachfolgern überlassend. Das ist schlechter, fieser Stil.
 
Viele Bürger haben eine ausgesprochene Anspruchsmentalität, wenn immer die Kosten sozialisiert sind. Deshalb werden Demokratien zu Schuldokratien. Und so war es doch recht erstaunlich, wie viele Bibersteiner sich für den Neubau eines Millionen-Mehrzweckraums stark machten. Mit besonderer Inbrunst taten dies auch die Ortsvereine, die in Biberstein ohnehin gut gehalten sind. Ich erhielt allmählich das Gefühl, dass selbst eine Guggenmusik wöchentlich intensiv üben müsse, um zur Fasnachtszeit ihre falschen Töne gezielt ausstossen zu können.
 
Ein Votant übergoss den Markus Siegrist wegen seiner mahnenden Worte in unmotivierter Art mit Gift und Galle – das sei eine tendenziöse Stimmungsmache, absolut verwerflich, so etwas.
 
Die Meinungsfreiheit begräbt manchmal den Anstand unter sich. Wer immer grundlos selbstkochend in Rage gerät, disqualifiziert sich selber. Solch Phänomene sind bekannt: Gerade im Kollektiv bildet sich oft eine Art Euphorie heraus, die sich vom Boden des Vernünftigen abhebt. Wenn man schon 11 Mio. bewilligt, warum denn nicht gleich 13 ...? Umso wichtiger sind die Standhaftigkeit und der Mut zur Unpopularität der Volksvertreter, insbesondere der Regierungen, die eine Führungsaufgabe wahrzunehmen sowie den Überblick zu behalten und nicht alles hinzunehmen haben, was an Ansinnen unter dem Oberbegriff Demokratie ans Licht gezerrt wird. Gemeindeammann Peter Frei wies das vollkommen deplatzierte, ungerecht diskriminierende Votum energisch zurück, eine durchaus fällige Reaktion auf eine Ungehörigkeit.
 
Die Mehrheit der Bibersteiner zeigte Vernunft und lehnte den Mehrzweckraum mit 73:21 Stimmen ab.
 
Eine gesunde Demokratie muss durch den Einsatz besonnener Menschen die Kraft finden, Anspruchsorgien und Ausrutscher aller Art in Schranken zu weisen. Das ist an der ausserordentlichen Gemeindeversammlung in Biberstein zum Teil geschehen. An ihr ging es um Ausserordentliches, und ein Ausrutscher dorthin, wo die gewöhnliche Ordnung nicht vorhanden ist, wurde zurückgepfiffen.
 
Die Demokratie hat, wie man sieht, auch eine menschenbildende, erzieherische Seite, nicht nur dann, wenn es um Schulfragen geht.
 
 
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