Textatelier
BLOG vom: 26.09.2012

Edelweisspiraten: Journalismus, Zeitzeugen, Widerspruch

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
In Düsseldorf erscheint regelmässig ein „Strassenmagazin“ mit dem Namen „fiftyfifty ‒ Obdachlose von der Strasse lesen“. Es kostet 1,80 €. Davon erhält die Verkäuferin oder der Verkäufer 90 Cent. Der Erlös des Magazins wird unter anderem auch dazu verwendet, Obdachlosen zu einer Wohnung zu verhelfen. Schirmherr ist der Franziskanerbruder Matthäus Werner.
 
Das Magazin berichtet über das Schicksal von Obdachlosen und von Verkäuferinnen und Verkäufern des Magazins, oft auch über Missstände und soziale Probleme in der Gesellschaft – nicht nur in Deutschland ‒ wie Arbeitslosigkeit, Asylanten, Ausbeutung und anderes. Das Magazin greift aber auch Themen auf, die nach der Meinung der Redaktion die Leser interessieren könnten, wie im Monat September 2012 über Strassenmaler. Ab und zu werden historische Themen aufgegriffen.
 
Im September-Heft 2012 handelte die Titelgeschichte von „Gitarren statt Knarren – Die Edelweisspiraten an Rhein und Ruhr“. Anlass dazu bot das diesjährige „Edelweisspiraten-Festival“ des Düsseldorfer Kulturzentrums am 09.09.2012.
 
Dr. Olaf Cless berichtet in dem Artikel als Autor über die „Bündische Jugend“, die sich dem Druck des Naziregims und dem Zwang, in die „HJ“ (Hitlerjugend) einzutreten, widersetzten. Eine dieser Jugendgruppen nannte sich die „Edelweisspiraten“. Cless folgt in einem Teil seines Artikels dem Buch von Gertrud „Mucki“ Koch, geborene Kühlem, mit dem Titel „Edelweiss – Meine Jugend als Widerstandskämpferin“, in dem die inzwischen 88-Jährige ihre Erlebnisse schildert, besonders auch die Aktionen der NS-Organe gegen die Jugendgruppen, Verhaftungen, Verhöre und Hinrichtungen.
 
Am Ende des Artikels schreibt Cless noch über ein „jahrzehntelanges, heftiges Nachspiel“ hinsichtlich der Anerkennung und Würdigung dieser Form des Widerstands und der Würdigung des Kölner Regierungspräsidenten im Jahre 2005, die Gertrude Koch und einige ihrer Gefährten als „Widerstandskämpfer gegen das Unrechtsregime des Nationalsozialismus“ erhielten.
 
Da mein Vater als Sohn einer traditionell sozialdemokratischen Familie mir und meinen Geschwistern erzählt hatte, wie er sich mit Unterstützung seines Vaters, meines Grossvaters, vor der HJ erfolgreich drücken konnte, interessierte mich das Thema, und ich recherchierte im Internet.
 
Dort stiess ich auf einen Bericht über eine Veranstaltung des „Vereins für Geschichte“ am 18.04.2007 im Kölner Stadtteil Brauweiler mit dem Titel „Kölner Edelweisspiraten in Brauweiler. Kritische Durchsicht der Erinnerungsliteratur“; es referierte Walter Volmer, ehemaliger Leiter der Kölner Kriminalpolizei.
 
Der Artikel beginnt so: „Gertrud Koch geb. Kühlem, gen. „Mucki“, schildert in ihrem Buch „Edelweiss – Meine Jugend als Widerstandskämpferin“ zahlreiche Begebenheiten, die sie so nicht in Erinnerung haben kann oder die frei erfunden sind.“
 
Volmer berichtete darüber, dass Frau Koch nicht – wie in ihrem Buch erzählt – 9 Monate in Gestapohaft gewesen sein kann, sondern in der fraglichen Zeit nur 3 Wochen, dass nicht alle Gruppenmitglieder gefoltert worden seien, ja der benannte Folterer sei in der fraglichen Zeit gar nicht in Köln gewesen. Frau Koch sei nur vorgeworfen worden, sich „bündisch“ verhalten zu haben, wogegen andere wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ angeklagt und verurteilt worden seien.
 
Das Thema „Oral History“, die Beurteilung von Berichten von Zeitzeugen oft nach Jahrzehnten der Ereignisse und deren Glaubwürdigkeit, interessiert mich sehr, denn wie Wikipedia unter http://de.wikipedia.org/wiki/Zeitzeuge feststellt, folgen die Erinnerungen nicht immer dem real Geschehenen:
 
„Die Glaubwürdigkeit eines Zeitzeugen ist – wie bei Zeugen allgemein – abhängig von der zeitlichen und räumlichen Nähe vom Vorgang (unmittelbare Anwesenheit am Tatort oder nur vermittelte Kenntnis), von seinem sachlichen Verständnis des Vorgangs (z. B. bei juristischen Verhandlungen) und vom Interesse an einer bestimmten Interpretation des Vorgangs. Aussagen, die dem Interesse des Zeitzeugen widersprechen, sind eher glaubwürdig als solche, die das eigene Interesse legitimieren. So sind positive Aussagen über einen Gegner eher glaubwürdig, ebenso wie negative über einen Freund.
 
So schrieb ich dem Autor des Artikels in „fiftyfifty“, Olaf Cless, eine E-Mail: „Ihr Thema ,Edelweisspiraten’ ist wichtig, vor allem, um zu zeigen, dass die Jugend im III. Reich nicht durchweg pro HJ war. Mein Vater erzählte mir, wie er als Jugendlicher in Gelsenkirchen es verstand, sich vor der HJ zu drücken, auch ohne einer der Jugendgruppen anzugehören. ‒ Sich aber nur auf das Buch von Gertrud ,Mucki’ Koch zu beziehen, ist nicht ausreichend, wie andere Forschungsergebnisse zeigen.“ Anschliessend habe ich den Artikel der obigen Vereinsveranstaltung wörtlich eingefügt.
 
Nach einigen Tagen antwortete mir der Autor. Er stütze sich keineswegs nur auf das Buch, habe keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Verhöre „brutal“ gewesen seien und die E-Mail endete dann so: „Ehrlich gesagt, befremdet mich die Bedenkenlosigkeit, mit der Sie, einem Vortrag Walter Volmers folgend, der Zeitzeugin Koch alle Glaubwürdigkeit absprechen. Ich darf Sie daran erinnern, dass Jean Jülich seinerzeit in gleicher Angelegenheit erfolgreich auf Unterlassung geklagt hat.“
 
(Der erwähnte Jean Jülich war ein anderes Mitglied der „Edelweisspiraten“ und hat ebenfalls ein Buch geschrieben.)
 
Da hat sich aber jemand gehörig „auf den Schlips getreten“ gefühlt! Ich lese in meiner oben angeführten Mail jedenfalls keine „Bedenkenlosigkeit“ heraus und auch nicht, dass ich der Zeitzeugin „alle Glaubwürdigkeit abspreche.“ Und dabei gleich darauf hinzuweisen, dass ich eine Unterlassungsklage riskieren würde, zeigt mir, dass ich da entweder „in ein Wespennest getreten bin“, wie man so schön sagt, oder dass Herr Cless nicht die kleinste Kritik an seinem Artikel duldet. Dabei ist dieser nicht etwa in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen.
 
In meiner Antwort habe ich das herausgestellt und hinzugefügt: „Um über historische Ereignisse zu arbeiten, wird es doch wohl erlaubt sein, auch andere Forschungsergebnisse zu erwähnen. Das soll in keinster Weise den einen oder anderen blossstellen oder die Glaubwürdigkeit absprechen. (Ich lese zwei sich widersprechende Aussagen, mehr nicht!) Oder ist eine Diskussion ‒ und mehr sollte es nicht sein ‒ auch nicht mehr erlaubt? Oder habe ich irgendwo behauptet, Frau Koch oder Herr Volmer lüge?“
 
Dann wollte ich wissen, wer dieser Dr. Cless ist. Wenn jemand so vollmundig daherkommt, wird er Historiker an einer Schule oder Hochschule sein, so dachte ich mir. Das Internet beschreibt ihn so: „Dr. Olaf Cless ist freiberuflicher Kulturjournalist und Literaturkritiker. Seit 1977 lebt er in Düsseldorf und schrieb und schreibt unter Anderem für taz, Freitag, Überblick, Merian-Hefte, Süddeutsche Zeitung, Handelsblatt, Düsseldorfer Hefte, fiftyfifty und kult. Ferner verfasste er Buchbeiträge zu Themen der Düsseldorfer Geschichte und Kultur- sowie Song- und Kabaretttexte für seine Kleinkunstgruppe TrioGesangVerein.“
 
Als Antwort auf meine E-Mail schrieb mir Herr Cless dann: „Sie haben recht, ich habe nicht klar unterschieden zwischen Ihren eigenen Zeilen und dem von Ihnen Zitierten von Volmer - insofern traf meine Erwiderung in Ihnen den Falschen.“
 
Dennoch: Sein journalistischer Stil ist, dass einer Meinung, die nicht der seinen entspricht, massiv unter Androhung gerichtlicher Schritte begegnet werden muss. Ich verstehe unter seriösem Journalismus etwas anderes!
 
Quellen:
Fiftyfifty, Hrsg. verschiedene Vereine und Verbände, u. a. der Caritasverband, Düsseldorf: www.fiftyfifty-galerie.de.
Gertrud Koch und Regina Carstensen: „Edelweiss. Meine Jugend als Widerstandskämpferin“. Rowohlt, Reinbek 2006, ISBN 3-49962-093-6.
 
Hinweis auf weitere Textatelier.com-Artikel mit Bezug zur Hitlerjugend
 
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst