Textatelier
BLOG vom: 22.05.2012

Polygamie – in Deutschland, in der Schweiz und in Indien

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
In Deutschland wird seit der Aussage des vorherigen Bundespräsidenten Christian Wulff„Der Islam gehört zu Deutschland“ – konträr diskutiert. So sagt der CDU-Fraktionschef Volker Kauder das Gegenteil und erntet wiederum Kritik von der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Etwa 5 % der Einwohner in Deutschland sind Muslime. Interessant ist die Studie von der Eberhard Karls Universität in Tübingen aus dem Jahre 2006 unter Dr. Michael Blume, die die Form der Integration von Muslimen in den kommenden zirka 20 Jahren beschreibt und eine durchweg positive Entwicklung vorhersagt.
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Ein interessanter Aspekt in der gesamten Diskussion ist die Polygamie, also das Recht, mehr als eine einzige Frau zu ehelichen. Ich wurde darauf aufmerksam, weil die Medien in Indien das Thema gern aufgreifen, besonders hinsichtlich der Scheidungspraktiken und in welchen Fällen diese gültig sind.
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Was ist Polygamie?
Wikipedia hat eine Definition: „Die Polygamie bezeichnet eine Form der Vielehe und der Duldung von gleichzeitigen eheähnlichen Beziehungen. Bei 2 Ehen spricht man von Bigamie. Polygamie ist das Antonym zu Monogamie. Es wird unterschieden zwischen Polyandrie (Vielmännerei, bei der eine Frau mehrere Ehemänner hat) und Polygynie (Vielweiberei, bei der ein Mann mehrere Ehefrauen hat) sowie der Polygynandrie (Gruppenehe) und anderen Eheformen, bei denen mehrere Frauen und mehrere Männer beteiligt sind.“
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Dass Polygamie auch in der Schweiz diskutiert wird, fand ich in einer Meldung mit dem Thema: „Islamisches Eherecht für die Schweiz?von Alexander Müller, veröffentlicht am 26.06.2011: „Schweizer Universitäten prüfen, wie man das islamische Eherecht in die Schweizer Rechtsordnung integrieren kann. Nach Meinung der Zürcher Rechtsprofessorin Dr. Andrea Büchler, die gerade eine Doktorarbeit von Patrick Bozzo beaufsichtigt, muss das Schweizer Familienrecht mit Blick auf kulturell und religiös plurale Gesellschaften überprüft werden. Denkbar sei, dass lediglich die islamische Form der Polygamie geprüft wird, also eine Ehe zwischen einem Mann und mehreren Frauen.“
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In muslimischen Ländern sind in der Praxis nur ein kleiner Prozentsatz aller muslimischen Ehen polygam. Die Türkei verbot die Polygamie 1926, Tunesien 1956; in allen anderen islamischen Ländern ist sie jedoch erlaubt. Die Mehrehe kommt vor allem im ländlichen Bereich vor und hat dort auch wirtschaftliche Gründe, oder sie wird geschlossen, wenn die erste Frau unfruchtbar ist, der Ehemann sie aber nicht verstösst. Die meisten Länder haben heute Erschwernisse für den Abschluss einer Zweit- oder Drittehe vorgeschaltet, wie z. B. die Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Ehemannes.
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Ein interessanter Aspekt in Deutschland: Obwohl Polygamie in Deutschland mit bis zu 3 Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, dürfen Muslime mehrere Ehefrauen in der gesetzlichen Krankenkasse mitversichern. Es kommt nämlich darauf an, wo die Ehen geschlossen worden sind. In Gerichtsurteilen ist festgehalten, dass eine Vielehe nicht unterbunden werden darf, wenn sie im muslimischen Ausland geschlossen worden ist. So schreibt SPIEGEL online: „Und nun die Muslime. Sie praktizieren die Vielehe nicht so oft wie früher, aber verboten oder ganz aus der Mode ist sie nicht. Und so ergeben sich Konflikte, wenn ein polygamer Muslim nach Europa kommt( ….). Das Oberverwaltungsgericht von Rheinland-Pfalz hat es sich nicht leicht gemacht. Das 20-seitige Urteil behandelt den Fall detailliert unter juristischen und menschlichen Gesichtspunkten. ,Die Klägerin kann ... die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis verlangen’, da es sich um eine ,auch hier als rechtswirksam anerkannte Mehrehe’ handle. Jedermann habe ,einen Anspruch auf Achtung seines Privatlebens’. Es könne der Klägerin ,nicht zugemutet werden’, die Lebensgemeinschaft aufzugeben, ,zumal ihre Ehe zwischenzeitlich auch hier als in gleicher Weise rechtsgültig wie die Erstehe ihres Ehemannes anerkannt worden ist ...'" (06.04.2004).
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Auf persönliche Art zum Glück
Indien, das ein kosmopolitischer Staat ist, duldet persönliche Gesetze und schützt damit Rechte seiner Bürger. Folglich ist jeder Bürger Indiens berechtigt, seine eigenen persönlichen privaten Gesetze und Rechte unter anderem hinsichtlich der Ehe und Scheidung zu haben, für Hindus ist das seit 1955 der Hindu Marriage Act, für Muslime der „Nikah“ (in etwa „Ehe"), für Parsen gibt es seit 1939 den Parsee Marriage & Divorce Act und für die indischen Christen seit 1889 ein indisches Gesetz, das the Christ Marriages regelt.
 
Die deutschen Vertretungen in Indien schreiben: „Für indische Staatsangehörige bieten die massgeblichen indischen Rechtsvorschriften jedoch keine formelle Rechtsgrundlage für die Ausstellung eines Ehefähigkeitszeugnisses. Der indische Special Marriage Act von 1954, der die einschlägige Rechtsnorm für alle Eheschliessungen bildet, die nicht zwischen rein hinduistischen, rein muslimischen oder rein christlichen Glaubensangehörigen indischer Staatsangehörigkeit geschlossen werden, listet zwar in Chapter II, Sec. 4. diejenigen Anforderungen auf, die eine heiratswillige Person erfüllen muss. Die Beurteilung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, obliegt dabei entweder dem zuständigen indischen Standesamt (Registrar of Marriages) oder dem zuständigen Amtsgericht (Magistrate). Nicht alle indischen Bundesstaaten stellen jedoch ein solches Zertifikat aus. Es basiert auch nicht wie in Deutschland auf personenstandlichen Registern.“
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Kommen wir auf das Thema Polygamie zurück, das es nach Aussage meiner Studentinnen unter Hindus nicht gibt; allerdings wussten sie auch nicht, ob es nicht doch hinduistische Glaubensrichtungen gibt, die das erlauben. (Man kann auch dazu Berichte im Internet finden.) Vorrangig ist es aber ein Thema bei den Muslimen.
 
Muslime werden durch ihre persönlichen, privaten Gesetze geregelt, nach denen „Nikah“ (d. h. Ehe) ein Vertrag ist und dauerhaft oder vorläufig (provisorisch) sein kann und einem Mann 4 Frauen erlaubt, wenn er sie alle ebenso gleichwertig behandelt. Um eine gültige Nikah nach dem moslemischen Gesetz zu haben, ist die Anwesenheit eines Qazi (Priester) nicht notwendig. Ein Vorschlag und die Anwesenheit und die Anhörung von 2 geistig gesunden, normalen Männern oder einem geistig gesundem, normalem Mann und 2 geistig gesunden, normalen weiblichen Erwachsenen und die Annahme, d.h. Zustimmung vorerwähnter Vorschläge reichen aus.
 
Ein Mann kann sich von seiner Frau ohne irgendwelche Gründe scheiden, indem er dreimal das Wort „Talak“ („Scheidung“) ausspricht. Um jedoch für eine Moslemin eine Scheidung zu erhalten, sind bestimmte Bedingungen notwendig. Dabei ist es nicht erforderlich, dass die Frau bei der Aussprache anwesend ist.
 
In Mumbai hat sich scheinbar etwas geändert. In einer Meldung vom 10.05.2002 steht, dass der Mumbai High Court will, dass Scheidungen vor einem Gericht verhandelt werden, und zwar in ganz Indien. Der Ehemann muss seine Exfrau finanziell unterstützen. Beide müssen vor dem Richter erscheinen http://www.rghr.net/mainfile.php/0420/270/.
 
Dass das Gesetz (noch) nicht überall angewendet wird, konnte man aus Zeitungsberichten in Indien entnehmen, in denen diskutiert wurde, ob das dreimalige „Talak“ auch gilt, wenn der Ehemann das am Telefon sagt, wenn er betrunken ist oder ohne Beisein seiner Ehefrau. Für Ehefrauen kann das unter Umständen wichtig sein, um aus dem Ehevertrag herauszukommen.
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Die Vielehe wird übrigens in Deutschland und der Schweiz auch deshalb diskutiert, weil die Einwohnerzahlen rückläufig sind, es mehr Männer als Frauen gibt (besonders bei den Zugewanderten) und man sich dadurch eine höhere Kinderzahl verspricht.
 
Wenn der Islam „zu Deutschland gehört“, wie Herr Wulff und andere Politiker dies beurteilen, wird die Gesetzgebung kurz oder lang nicht umhin kommen, zu überlegen, ob es unterschiedliche Rechte für unterschiedliche Religionsgruppen (und auch für Nichtgläubige) geben soll. Das dürfte noch in ferner Zukunft liegen. Der Gedanke ist  zwar nicht abwegig, aber mit dem demokratischen Grundsatz, wonach vor dem Gesetz alle gleich sind, schwer zu vereinen.
 
Internet-Hinweise
 
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