Textatelier
BLOG vom: 23.04.2012

Damals, 1974/75 als German assistant in Grossbritannien

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D, zurzeit in Bangalore/Indien
 
Eindrücke sind immer individuell. Sie verblassen mit der Zeit oder sie verändern sich, oft werden positive Erlebnisse eher behalten als negative. Erinnerungen werden der sich in den Jahren danach veränderten Sichtweise angepasst.

Wenn ich zum Beispiel mit meinen Geschwistern über unsere Kindheit spreche, ist es manchmal, als ob wir nicht in derselben Familie aufgewachsen wären.
 
Während meines Lehrerstudiums entschloss ich mich, ein Jahr über den Pädagogischen Austauschdienst als German assistant nach England zu gehen und dort Deutsch zu unterrichten. Der PAD wählte für meinen Aufenthalt die kleine Stadt Boston im County Lincolnshire an der Ostküste nördlich von East Anglia aus. Es ist eine flache Gegend, mit Namen Holland, landwirtschaftlich geprägt und hauptsächlich für den Gemüseanbau bekannt. Die Stadt hat eine grosse anglikanischen Kirche, „The Stump“, die über viele Kilometer hinweg sichtbar ist und einen unvollendeten Turm besitzt. Vor der Kirche findet wöchentlich ein grosser Markt statt, zu dem viele Menschen aus den umliegenden Dörfern herbeiströmen.
 
Ich entschied mich, mit dem Fahrrad über die Fähre ab Hamburg nach England zu fahren. Mein Aussehen war dem Studentenleben der Zeit angepasst: lange Haare bis auf die Schultern, ein dünner Bart, und ich war nicht schlank, sondern mit meinen 1,89 cm Länge und 55 kg Gewicht ausgesprochen dünn.
 
In Boston wurde ich in Konversationskursen in der Grammar School für Boys auf der einen Seite und in der High School für Girls auf der anderen Seite des Orts eingesetzt. Ich wohnte zuerst bei einem Biologielehrer, danach in einem eigenen kleinen Bedsitter, ein einfaches möbliertes Zimmer.
 
Ich mochte „fish and chips“ sehr gern. Mittags zum Lunch ass ich in der Schule, denn als Mitglied des Lehrerkollegiums musste ich mich nicht in die Reihe stellen. Ich erinnere mich an Pommes frites, giftgrüne Erbsen und Karotten, öfters Fleisch mit Sosse („steak and kidney pie“). Am liebsten mochte ich den Nachtisch: warmer Kuchen mit Vanillesosse. Das Hauptgericht war nicht besonders lecker. Jedenfalls fand ich den Unterschied zum Mensaessen in der Uni in Deutschland aus geschmacklicher Sicht nicht sehr gross.
 
Nach einiger Zeit gab ich einem englischen Schulmädchen aus einer anderen Schule Nachhilfe bei ihr zu Hause und sagte, ich wolle kein Geld, „I stay for tea“. „Teatime“ entpuppte sich dann als volle Mahlzeit und Mrs. Modley konnte hervorragend kochen. Ich konnte allen Vorurteilen Lügen strafen, es war wirklich delicious, und zwar original englisch!
 
Später lernte ich dann einen Bäckermeister mit eigenen Backläden kennen, dem ich auch ein wenig Deutsch vermittelt habe. Wir haben noch immer guten Kontakt, und Jeanie, die Frau von Ivan, versuchte (vergeblich), mir mehr Fleisch auf meine Rippen zu verschaffen, und zwar nicht nur mit Brot, sondern mit Cakes und vielen anderen herrlichen Süsswaren. Ich lebte also „wie Gott in England“, um das Sprichwort anzupassen. Bei Besuchen, im letzten Jahr war ich wieder einmal dort, ist das immer noch ein fröhlicher Gesprächsstoff.
 
Der Bäckermeister war Leiter einer Jazzband „The Boston Stumpers“, spezialisiert auf Dixieland-Jazz, und im Jazzclub einmal die Woche war ich natürlich Mitglied. Ich war interessiert an den Beatles, Simon and Garfunkel, Kinks und wie die Bands alle so hiessen, auch an so melancholischer Musik wie jene von Leonard Cohen, an Liedern von James Taylor, Carol King und vom „Schreihals“ Janis Joplin, deren Musik ich immer „auf volle Lautstärke“ aufdrehte, was ich übrigens auch mit „Toccata und Fuge“ von Johann Sebastian Bach tat.
 
Mein geringes Entgelt reichte immer auch noch für eine Musikcassette, diese aber meist aus dem klassischen Repertoire mit Musik aus „St.-Martin-in-the-Fields“, einer Kirche in London.
 
Ich fuhr also mit meinem Fahrrad immer zwischen den beiden Schulen hin und her und hatte eine gute Zeit. Ich konnte die Gegend erkunden, im Sommer schwimmen gehen, in der schönen alten Stadt Lincoln einen Englischkurs besuchen und vieles mehr. Sogar an einen Tagesausflug nach London kann ich mich erinnern.
 
Von grösseren Problemen weiss ich nichts mehr. Erinnern kann ich mich an Originale, unter anderem Lehrerkollegen, die ihr Leben so gestalteten, wie sie es für richtig hielten und sich nicht um die Meinung der Umgebung scherten. Auch ich war mit meinem Aussehen nicht angepasst. Ich habe die Zeit genossen, viele Eindrücke gesammelt, die Sprache gelernt und mich einfach wohlgefühlt.
 
An ein Gespräch mit einer Krankenschwester kann ich mich erinnern, die ich gefragt habe, ob sie nicht daran gedacht habe, im Ausland Erfahrungen zu sammeln. Sie verneinte das, denn sie fürchtete in ihrem Alter von Mitte 20 um ihre spätere Pension! Das war etwas, was mir nicht in den Kopf ging.
 
Es war mein erster längerer Auslandsaufenthalt. In meiner Erinnerung war er herrlich. Ich bin sicher, dass mein Rückblick auf die Zeit in den Jahrzehnten einiges aus dem Gedächtnis gestrichen hat. Vielleicht ist das gut so! Jedenfalls glaube ich, in diesem Jahr die Grundlage dafür gelegt zu haben, mehr von der Welt sehen zu wollen.
 
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