Textatelier
BLOG vom: 14.01.2012

Neue Einsichten: Die Wimper und das Chamäleonauge

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
In jedem Menschen schlummert ein Geheimnis, das er nicht kennt.
(EB)
Vorgeschichte
Tony stammt aus Corby in Northamptonshire (UK). Sein Vater hatte am Rande dieser eher trostlosen Stadt eine kleine Bäckerei, die knapp den Lebensunterhalt der Familie sicherte. Seine Schulzeit war mit schlechten Erinnerungen verbunden.
 
Er stand neben seiner Mutter in einer Reihe und wartete darauf, einem der 3 Primarschullehrer zugeteilt zu werden. Entgegen seiner Hoffnung wurde er dem hageren Lehrer zugeordnet, dessen griesgrämige Miene wenig Gutes versprach.
 
Tony war kein aufsässiger Schüler und durchlief seine Schuljahre recht und schlecht mit mangelhaften Zeugnissen. Dank seiner phlegmatischen Natur mauserte er sich durch und hatte keinerlei Verlangen, die Schulzeit über das 16. Lebensjahr hinaus zu verlängern. Er fand eine Anstellung als Hilfskraft im Büro einer Firma in London. Auch dort fügte er sich ohne Murren ein und stand stundenlang hinter dem Kopierapparat, legte Papiere in Dossiers ab und verrichtete andere einschlägige „Handlangerdienste“. Sein kurioses Erlebnis, mit seltsamer Symbolik durchwirkt, kann der Reihe „Perplexionen“ zugefügt werden (siehe Links am Schluss). Die Interpretation bleibe dem Leser überlassen.
*
Im 4. Stock seiner Wohnung an der Faraday Road in Wimbledon (London) hatte sich von Tonys Augenlid ein Wimpernhaar gelöst und in seinem linken Augapfel verfangen. Tony rieb sich das Auge. Tränen werden die Wimper wohl wegschwemmen und an den Augenrand treiben, dachte er, setzte seine Brille auf und ging zur nahen Bushaltestelle.
 
Die Wimper aber weigerte sich, Tonys Auge zu verlassen und kringelte sich um seine Pupille, was sich störend auf seine Vision auswirkte. Störend? Nicht unbedingt. Deckte er sein rechtes Auge ab, konnte er mit dem linken um die Ecke der Strasse sehen. Und er sah den herannahenden Bus. „Jeden Tag das Gleiche“, klagte sein Vordermann in der Warteschlange, „ich wette, 3 kommen alle auf einmal!“
 
„Es kommt diesmal nur ein einziger Bus, und er wird in einer Minute hier sein“, widersprach ihm Tony bestimmt. „Es muss nicht jeden Tag das Gleiche sein“, fügte er verhalten hinzu. So selbstsicher hatte er sich nie zuvor geäussert.
 
„Ihren Wunderglauben …“ Sein Vordermann liess den Rest des Satzes fahren, denn der Bus fuhr wie bestellt vor.
 
An seinem Arbeitsort bemerkte ein Kollege Tonys gerötetes Auge. „Das ist von einer Wimper verursacht“, sagte Tony und bezog sein Pult ohne Wimperzucken. Nach Arbeitsschluss suchte Tony – er war ein Junggeselle – wie gewohnt das Pub („The Alexandra“) auf. Im Spiegel in der Toilette stellte Tony erleichtert fest, dass sein Auge nicht länger gerötet war. Nur die Pupille leuchtete rot (wie auf einer schlechten Fotoaufnahme), was er der Reflexion der Neonröhre zuschrieb.
 
Am nächsten Morgen besah er sich das Auge beim Rasieren. Seine Pupille war wie von einem schwarzen Faden kreisrund eingefasst. Die Pupille glühte wie ein Rubin. Er beschloss, den Arzt aufzusuchen. „Hin und wieder kommt es zu temporären Verfärbungen der Pupille“, sagte der Arzt ausweichend. Dabei liess es Tony bewenden.
 
Es kam, wie es kommen musste, als er beim Kneifen des rechten Auges feststellte, dass er seine linke Pupille beliebig wie ein Chamäleonauge drehen und sogar scharf bis auf einen Kilometer entfernt sehen konnte. Mehr noch: Seine Pupille konnte nicht nur um Ecken, sondern erst noch durch Mauern und Wände sehen. Wohlweislich behielt er diese Entdeckung für sich, aber sinnierte, was er mit dieser sonderbaren Sehgabe alles tun könnte.
 
„Es Vermag ich dadurch meine Lebensumstände zu verbessern?", fragte er sich. Spielerisch nutzte er seine Gabe zuerst als Voyeur im eigenen Wohnblock, beginnend mit der gewerblich tätigen Frau in der Wohnung nebenan, die immer wieder seine Nachtruhe störte. Was er sah, ekelte ihn, und was sich ihm sonst noch im Haus offenbarte, waren trostlos öde Alltagsszenen. Sein Alltagsleben war kein Deut besser: der tägliche Trott zur Arbeit, die seichte Unterhaltung im Pub, das Dösen vor dem Fernseher. Je mehr er sah, desto verdriesslicher wurde er. Wie ein Chamäleon hatte er sich stets an seine Umgebung angepasst.
 
Eines Morgens rieb er sich die Augen, und der Spuk war weg. Er raffte sich erstmals hoch und entschloss sich, seinem Leben mehr Freude abzugewinnen. Als 1. Schritte wechselte er seine Wohnung und seinen Arbeitsplatz. Sein neues Lebensumfeld wirkte positiv auf ihn ein, und Tony lebte auf. Der rote beziehungsweise tote Punkt in seinem Leben war endlich überwunden.
 
At any rate, if not by a whisker, won Tony by an eyelash a better quality of life.
 
 
Geschichten von Emil Baschnonga aus der Reihe Glanzpunkte
 
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