Textatelier
BLOG vom: 20.09.2010

Italienreise 3: Der Einfluss und die Schönheit mehrerer Meere

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Das Tyrrhenische Meer. Der Golfo di Barrati. Wir standen am Morgen des 06.09.2010 auf dem vom Wasser angenagten, eingekerbten Podest mit den vom Wind gebeugten Pinienschirmen über dem berühmten Golf, an dessen Sandstrand unter uns die Wellen den groben Sand ausebneten. Ein paar Treppenstufen nur – und wir wären am Wasser gewesen. Da aber das Baden an jenem Tag nicht auf unserem zusammen mit Ursula und Fernand Rausser ausgearbeiteten Programm stand, musste dieser erste Eindruck genügen. 2 Tage später würden wir hier nach Jahrzehnten wieder einmal einen Badetag am Meer verbringen.
 
Das Mittelmeer ist ein Teil der Apenninhalbinsel und für sie ein wichtiger Klimafaktor. Seine Randmeere werden grob in 4 Meere unterteilt - Schulbuchwissen: das Ligurische Meer im Nordwesten, das (an die Toscana anschliessende) Tyrrhenische Meer im Südwesten, das Ionische Meer im Süden und das besonders grossflächige Adriatische Meer auf der Ostseite des Stiefels. Selbstverständlich gibt es auch noch detailliertere Bezeichnungen, so etwa das Mar di Sardegna zwischen Sardinien und den Balearen.
 
Das Tyrrhenische Meer (Mar Tirreno) ist das Meer der Etrusker, die von den Griechen Tyrrhenoi genannt wurden. Es ist von ausgedehnten Gebirgsrücken durchzogen und reicht vor dem Vulkanbogen der Äolischen Inseln mit dem Stromboli bis in Tiefen von 3600 m. An vielen Stellen haben die Strömungen und Gezeiten wunderschöne Sandstrände geschaffen, wie eben auch im Golf von Barrati, wo der Strand grobkörnig und von gemahlenen und gerundeten, grobporigen Eisenschlacken aus der Etruskerzeit durchsetzt ist.
 
Bei Baratti baden
Am Morgen des 08. Septembers fanden sich Eva und ich an der Etruskerküste bei Barrati ein; diese erstreckt sich von Livorno bis zum Vorgebirge von Piombino. Erst wenige Badegäste waren da, und wir suchten ein schattiges Plätzchen bei Binsen und anderen Strandszenen liebenden Pflanzen im südlichen Teil des Küstenhalbrunds, vor einem Sandhügel, breiteten unsere Bastmatten an der leicht abfallenden Küste aus und waren dann doch froh, als die Sonne etwas Wärme durch die Schirmdächer bildenden Pinien und anderen Kiefern sowie Eschen zu uns sandte.
 
Die weisse, salzige Gischt der abflachenden Wellen lud zum Träumen ein. Ferienstimmung. Das Dolce far niente. Endlich wieder einmal. Das Meer schien ruhig, und dennoch türmten sich am Uferstreifen über 50 Zentimeter hohe Wellen auf, die sich lärmig überschlugen und sich abgeflacht schwungvoll über dem Sand ausbreiteten, sich beruhigten und wieder ins Meer zurückflossen. Ein ständiges Schauspiel ohne sichtbaren Antriebsmotor. Abgestorbene, braun-schwarze Neptungräser waren von den Bewegungen des Wassers an einer Stelle zu einem grossen Haufen ordentlich aufgeschichtet, eine Art Kompostieranlage. Das Wasser ist an den 300 Küstenkilometern der Toscana angeblich so sauber wie sonst nirgends in Italien; viele Orte sind dafür mit der „Banderia Blu“ (dem Blauen Band), dem Wassergüte-Siegel, ausgezeichnet.
 
Der Strand war an der Stelle, wo wir uns niedergelassen hatten, nicht maschinell gereinigt, und was das Meer hergab, lag ausgebreitet da, neben Seegräsern auch Muschelschalen, kaum aber Kunststoffe. Ein streunender Hund kam zweimal vorbei, eine Strassen- bzw. Strandmischung in hellem Graubraun von der Grösse eines ausgewachsenen Schäfers, steinmager. Seine langen, schlanken Hinterpfoten schleppte er etwas nach; sie waren nach einem Unfall oder allenfalls einem Tritt in eine Falle wohl nicht an der richtigen Stelle zusammengewachsen. Er suchte nach Futter, und wir hatten bedauerlicherweise nichts dabei, das für ihn geeignet gewesen wäre.
 
Bei seinem letzten Durchgang markierte der hungrige, invalide Passant erstaunlich treffsicher einen kleinen Sandhügel, etwa 3 Meter entfernt von uns. Die kleine Erhebung war wahrscheinlich am Vortrag eine Sandburg gewesen und von einer weit in den Uferstreifen hinein reichenden Welle etwas abgeflacht worden. Das Tier sahen wir anschliessend nicht mehr.
 
Der Strandstreifen bevölkerte sich nach 10 Uhr zunehmend. Genau dort, wo die markierte Sandburg war, liess sich eine italienische Familie – Mutter, Vater und 2 Knaben im Alter vom 8 bis 12 Jahren – nieder. Die attraktive Mutter trug einen Sari, weshalb ich sie zuerst für eine Inderin hielt. Als sie dieses rote Kleidungsstück abgelegt hatte, kam eine schön und betont gerundete Figur zum Vorschein, die sich elegant bewegte. Wenn ich ihr hier ein Kompliment mache, komme ich mir wie ein Pappagallo vor, womit nicht der Papagei als Tier gemeint ist, sondern als Pappagalli wurden einst die jungen Italiener bezeichnet, welche den aus dem Norden herangereisten Touristinnen ihre Bewunderung wiederholend ausdrückten, weil die einheimischen Weibervölker ihre Reize noch sparsamer zur Schau stellten, wie es das Keuschheitsgebot vorsah.
 
Der hellhäutige Vater, mit einem kleinen Tattoo in der Mitte des Rückens versehen, begann sogleich mit dem Bau einer Sandburg am Rand der vom Hund markierten Stelle. Sollte ich die Familie vor den Spritzern warnen? Ich konnte mich nicht dazu entschliessen, weil Sprachschwierigkeiten hätten dazu führen können, dass die Leute den Eindruck erhielten, wir wollten sie nicht in unserer Nähe haben, sie hätten daraus den Trugschluss ziehen können, auch wir wollten unser Revier verteidigen.
 
Der Vater schob mit einer Gummisandelette den Sand gegen ein Brettchen, das er in der Nähe aufgelesen hatte, und baute das Mauerviereck der Burg. Offenbar war der Sand nicht allzu sehr parfümiert oder aber die Nase des Baumeisters war nicht fein genug. Das bestätigte mich in meiner Zurückhaltung. Ich hatte richtig entschieden. Das familiäre Glück neben uns und unsere nachbarlichen Beziehungen blieben ungetrübt.
 
Die ersten Kinder gingen ins klare Wasser, eine unwiderstehliche Einladung, und ich tat es ihnen gleich. Gleich am Rand der Brandung war der Sand eingetieft, und ich stand bis zum Bauch im Wasser, ging weiter, spürte, wie sich das Seegras sanft um meine Füsse und Beine wickelte, und die nächste Welle benetzte mich komplett, sogar ein Auge bekam einen Spritzer ab. Ich legte mich auf die Wasseroberfläche, bewegte Arme und Beine und war sogleich mit dem kühlen, relativ ruhigen Wasser verbunden, fühlte mich leicht. Herrlich. Die unergründliche, endlose blaue Welt lag vor und neben mir. Schwimmen. Sich tragen lassen. Fühlen. Nichts denken.
 
Nach einer nicht mehr zu definierenden Zeitspanne stieg ich aus dem Wasser, legte mich an die Sonne, wo mich aber das geschäftige Leben gleich wieder einholen sollte. Ein geschäftiger Afrikaner kam mit einer Fülle von billigen Bastkörben vorbei, die er an einer Art Joch (Schultertrage) festgebunden hatte. Die Ladung warf er vor uns in den Sand und wollte mich in ein Verkaufsgespräch verwickeln, sagte „buono“ und „very good“, sein Sprachtalent zum besten gebend, und ich bedankte mich auf Italienisch fürs Angebot: „Tante grazie.“ Ich gab zu verstehen, dass wir weder maschinell geflochtene Körbe noch Schalen benötigten. Als der kräftige Mann mit der dunklen Sonnenbrille, der etwa 10 ineinander geschachtelte, ebenfalls geflochtene Hüte auf dem schwarzen Kopf trug, grazie a Dio weitergezogen war, näherte sich gleich sein Nachfolger. Dieser trüg eine mindestens 40 cm dicke Beige von farbigen Decken – wohl Strandtücher –, die zu Streifen gefaltet waren, auf der linken Schulter. Er kniete vor uns nieder und sagte, wenn ich richtig verstanden habe, etwas von „un Euro“. 1 Euro für eine Decke? Ich frage nach: „Solamente 1 Euro?“. – „Si.“ Also bat ich Eva, den gewünschten Euro aus der Tasche meiner deponierten Hose zu klauben. Doch genau in diesem Moment setzte eine unwahrscheinliche Teuerungswelle ein. Der Verkäufer erhöhte den Preis auf 45 Euro, schrieb diese Zahl jedenfalls in den Sand. Die gelbe, lose gewobene Decke interessierte mich jetzt nicht mehr und mit Abwehrbewegungen versuchte ich, das Verkaufsgespräch zu beenden, was sich als längere und aufreibende Aufgabe erwies.
 
Kaum war wieder etwas Ruhe eingekehrt, schaute sich ein nächster, diesmal mit Bündeln von zypressenförmigen, zusammengeklappten Sonnenschirmen und -brillen bewaffneter Afrikaner mit hervorstehenden Lippen und besonders dunkler Hautfarbe, dessen Herkunft ich im Kongo vermutete, aufmerksam nach Opfern um. Mit abweisenden Handbewegungen wehrte ich diesen neuerlichen Angriff auf meine erloschene Kaufbereitschaft ab. Doch war es wie bei gewissen Wildtierarten: Je mehr man davon erlegt, umso stärker vermehren sie sich. Der nächste Verkäufer trug farbige Broschüren herum. An sich hätte es mich interessiert, um welche Art Literatur es hier ging, doch wagte ich nach all den Erfahrungen nicht mehr, ein Zeichen von Interesse von mir zu geben, ansonsten ich jetzt wahrscheinlich mit einem italienischen Liebesroman aus dem florentinischen Adel wie der Medici ausgestattet wäre. Literatur von Dante, Bocciaccio und Petrarca dürfte wohl kaum nicht im Angebot gewesen sein.
 
Insgesamt habe ich knapp 20 Strandverkäufer gezählt, worunter eine üppige Afrikanerin in einem von Goldfäden durchwirkten, braunen Umhang, von der ich vermute, dass sie die am Strand patrouillierenden Händler koordiniert. Einer bot Shorts und andere Kleidungsstücke an; doch am blühendsten scheint das Deckengeschäft zu sein, worauf ich nach all meinem Beobachtungen schliesse, ohne Anspruch auf Repräsentativität.
 
Ohne Kaufs- und auch ohne Verkaufsabsichten unternahmen Eva und ich dann selber eine Strandwanderung, wobei wir am eigenen Leib erlebten, wie mühsam und kräftezehrend das Gehen im nachgebenden, feuchten Sand ist; das nördliche Ende der Barrati-Bucht besteht aus einem skurril ausgewaschenen, braunen, harten Fels, der ins Wasser greift und das Baden hier unmöglich macht; man würde sich die Haut aufreissen.
 
Punta Ala
Weiter südlich, am unteren Ende des Golfs von Follonica, in Punta Ala (Ortsteil der Gemeinde Campligione della Pescaia, ursprünglich Punta Toja genannt) , haben wir 1970 bescheidene Zeltferien gemacht, und wir wollten jetzt, genau 40 Jahre später, diesen herrlichen und für den Tourismus perfekt organisierten Stand noch einmal sehen. Mit Raussers fuhren wir am Abend des 07.09.2010 dorthin, erlebten das wunderbare, rötliche Licht der sich verabschiedenden Sonne, jenes zarte „sfumato“, das die Farben abschwächt und ihnen eine leichte, durchschimmernde Patina verleiht und landschaftliche Konturen vereinfacht. Fernand Rausser hielt die den leichten Uferbogen nachzeichnenden, exakt ausgerichteten und aufgeklappten Liegestühle und zugeklappten Sonnenschirme fotografisch fest, als Akt der Geometrie in einer künstlich perfektionierten Welt. Die Sonnenanbeter, die tagsüber den Strand bevölkert hatten, waren offenbar beim Abendessen, und im ausgeebneten Sand war keine Verunreinigung auszumachen. Fast hatte man Hemmungen, darin seine Fussabdrücke zu hinterlassen. Doch auch diesbezüglich würde das Meer für eine Ausebnung sorgen.
 
Der recht tiefe Pinienwald säumte den Brandungsbereich wie damals, nur waren einige neue Restaurants hinzu gekommen, die um alte Pinien herum gebaut sind. Pinienstämme wurden ins Restaurant eingebaut. Sie treten durchs Dach ins Freie, wo sie ihr eigenes Dach ausbreiten. Die Bucht ist weit, elegant geschwungen; die Befestigungsanlagen zum Schutz gegen die Piraten sind immer noch da, bei der Renaissance des altehrwürdigen Piraterie-Brauchtums ein beruhigendes Zeichen. Den Besuch des Internationalen Campingplatzes Baia Verde, 10 km von Punta Ala entfernt direkt am Meer gelegen, schenkten wir uns; er soll inzwischen mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet sein.
 
Die Gegend, heute ein mondäner Urlaubsort, gehörte ursprünglich zum Sumpfland der Maremma, war unbewohnt, bis Leopold II., Grossherzog der Toskana, um 1840 ein Entwässerungsprogramm verwirklichen liess.
 
Meeresfrüchte
Am anderen Ende des Golfs ist die Stadt Follònica, an den südlichen Ausläufern der Colline Metallifere gelegen und ebenfalls in der Provinz Grosseto. Zum Abendessen begaben wir uns an die Via delle Collacchie zum Ristorante „da Maurizio“, wo währschafte Fischgerichte aufgetragen wurden.
 
Tags zuvor hatten wir uns in Carbonifera (Piombino) verpflegt, unmittelbar am Ufer des Golfs von Follònica. Wir schauten uns zuerst bei der zerfallenden Località Carbonifera bei einer schmalen Hafeneinfahrt um, bewunderten ein fischendes Mädchen und werweissten, welches der beiden Restaurants am Strand wir besuchen sollten. Der Kellner Marco des Ristorante „La Scogliera“ erkannte Fernand Rausser auf Distanz, brach in Jubel- und Willkommensschreie aus, genauso wie jeweils die grosszügige, die Preise abrundende Verkäuferin im Laden „Dagli Emiliani Micheli D & C.“ an der Via Indipendenzs in Venturina. Und so war unsere Wahl vorweggenommen. Marco beeindruckte uns später durch die liebevolle Betreuung einer Gruppe von Behinderten.
 
Wir tranken den Aperitif im meerseitigen Wintergarten und genossen im Inneren des einfachen Hauses bei unbehelligtem Blick aufs nachdunkelnde Wasser Meeresfrüchte nach Herzenslust: zuerst eine Riesenschale voller Cozze alla Marinara (Miesmuscheln), deren aromatische Weichteile man nach Ursulas Idee am besten mit dem Schalenpaar, das wie eine Zange zu gebrauchen ist, herauszerrt. Dann waren panierte und frittierte Kleinfische am Stück an der Reihe – immer mit Blick aufs Meer.
 
Noch nie in meinem Leben habe ich mich in eine italienische Gelateria hineingewagt, aber der Genuss im Hause Bellucci Sara an der 47, Via Biocchi in Follònica, das Raussers seit Jahren positiv aufgefallen war, hat mir aufgezeigt, wie schwerwiegend meine Unterlassungssünden waren: nach dem süssen Nichtstun das süsse, geschmeidige Eis mit komprimierten Fruchtaromen aus der Natur.
 
Das schmeckte nicht nach Meer, sondern nach Mehr.
 
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