Textatelier
BLOG vom: 18.06.2010

Das Rheinwald GR: Erstrangiges Ziel für wetterfeste Walser

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Der Rhein ist zuerst einmal eine Zwillingsgeburt, bestehend aus dem Vorder- und dem Hinterrhein. Die Fluss-Geschwister vereinigen sich in Reichenau/Tamins GR zum Alpenrhein, fliessen ab jetzt als Unikum im gleichen Bett vorerst einmal dem Bodensee entgegen.
 
Der Hinterrhein, dem unsere Exkursion vom 10.06.2010 galt, entspringt am Rheinwaldhorn, dem höchsten Berg der Adulagruppe, einem von Gletschern wie dem Zapportgletscher und Eisvorfeldern durchzogenen, wilden Gebiet. An den Steilhängen neben der Schwemmebene des Rheinwalds, die sich gegen Westen auf der Höhe des Wissbergs ansteigend ins Gebirge einschneidet, war es bei unserem Besuch erst Vorfrühling. Wo Lawinen den Schnee zu grösseren Haufen aufgeschichtet hatten, gab es noch weisse Flächen im Landschaftsbild, die meistens die Formen der unzähligen Seitentäler nachzeichneten. Die Temperatur lag bei etwa 12 bis 14 °C. Die Bäche, die vom nördlichen und südlichen Abhang in unschuldigem Weiss wie die Fransen eines lockeren Vorhangs dem Hinterrhein zu einer grösseren Bedeutung verhelfen, führten viel Schmelzwasser, das hier dank des fein pulverisierten Gesteins zur mineralienreichen Gletschermilch wird; Rindvieh braucht es dazu nicht.
 
Mein Schwager Werner Allemann aus Malix GR, der mich auf dieser Exkursion fachkundig begleitete, war zwischen 1932 und 1948 in diesem Gebiet Rheinwald aufgewachsen, genau genommen im Dorf Medels (Valrain), das heute rund 45 Einwohner zählt, einschliesslich der 2 Streusiedlungen. Eine davon (Nühuus, Neuhaus) schmiegt sich um die Kirche unterhalb das Dorfs. Im Hotel „Walserhof“, nahe bei der A13-Einfahrt, tranken wir einen guten Kaffee schauten zum Guggernöll mit den Lawinenresten, in dessen rutschigen Steilhängen Werner früher auf der Jagd war, ein gefährliches Treiben selbst für den Jäger.
 
Der Name der kleinen Gemeinde ist im lateinischen „metallum“ (= Metall, was an den Eisenerzabbau erinnert) abgeleitet. Medels war einst das politische Zentrum des Rheinwalds, weil hier die Landsgemeinden stattfanden. Werners Geburtshaus („Jöri-Haus“, Jöri bedeutet Georg) mit den roten Läden und dem zu Wohnzwecken umgebauten Stallteil unter dem Schollengrat (Schollagrat) steht noch immer. Werner absolvierte anschliessend an den Schulbesuch eine Zimmermann-Lehre und bildete sich zum Bauführer weiter. Für mich war Werner Allemann als ursprünglicher Walser, dem alemannischen Volksstamm, der sich im Wallis angesiedelt und von dort aus in die Hochtäler verzogen hatte, der ideale Lehrer, um mich an Ort und Stelle in die Walser-Bauweise einzuführen.
 
Das nächste westlich an Medels anschliessende Dorf ist Nufenen mit dem Schloss, dem Wiiss und dem Rothuus sowie den vielen modernen Ställen für Vieh, Heu und Emd mit den entsprechenden Landwirtschaftsmaschinen. Die Landwirtschaft ist die Grundlage für den Nufener Bergkäse. Nufenen –im Rathaus ist das Kreisarchiv – war einst der Hauptort des Rheinwalds.
 
Die Walser Architektur
Die Walser hatten nach dem Verlassen des Wallis sich zuerst einmal in dieses Rheinwald-Gebiet vorgewagt (noch vor ihren Vorrücken nach Davos, ins Schanfigg, Prättigau, in die Gebiete von Safien, Avers, Vals, Obersaxen usf.) und hier ihre Häuser erstellt; vielleicht kamen später einige auch direkt aus den weiter nördlich gelegenen alemannischen Gebieten hierher. Die ersten Walser-Einwanderungen waren im Bündnerland um 1270 zu beobachten – deutsche Leute aus dem Wallis, die vielleicht nach Jahren der Dürre und des Nahrungsmangels durch rätische Dynastien wie die Grafen von Sax-Misox zur Auswanderung in verlassene und wenig fruchtbare Hochtäler gezwungen wurden.
 
Die Walser entwickelten ihren eigenen Baustil: Auf dem gemauerten Unterteil bestehen die Wohnhäuser aus zugeschnittenen Baumstämmen, die in Blockbauweise zusammengefügt sind. In den Ecken sind die hier zusammentreffenden Balken bis zur Mitte ausgespart, so dass sie sich schön ineinander fügen. Die Bündner nennen diesen Reissverschluss „Gwätt“, und die Gebäude werden in der Architektursprache der Schweizer Alpenwelt als Strickbauten bezeichnet. Zum Schutz des Holzes sind viele Strickbauten mit einem Überzug aus Holzschindeln versehen, „geschindelt“, wie man sagt. Der Giebel ist meistens zur Talseite ausgerichtet.
 
Der Name „Rheinwald“ belegt, dass es hier einst grosse Baumbestände aus Lärchen und Tannen, also Wälder gab, die allerdings im Hochmittelalter stark dezimiert wurden, weil Weiden und Äcker enstanden, auf denen zum Beispiel Gerste, Flachs und Hanf heranwuchsen. An Bauholz besteht noch immer kein Mangel.
 
Oft teilt man die vielgestaltige Bündner Architektur grob in Engadiner und Prättigauer Häuser auf. Letztere sind nahe bei der alemannischen Wohnform innerhalb gestrickter Balken, die sich auch in der Innerschweiz findet. Anfänglich bestanden diese Häuser aus einem einzigen Raum mit Feuerstelle; erst allmählich wurden Räume für spezielle Zwecke abgetrennt – zum Beispiel durch eine Querteilung von Küche und Wohnraum. Dies geschah im rechten Winkel zur Firstrichtung, wodurch die Stube an die Sonne kam und die Küche im hinteren, schattigeren Bereich verblieb. Dort loderte das wärmende Feuer – und die Brandgefahren waren nicht zu unterschätzen. So brannte beispielsweise am 02.08.1716 das ganze Dorf Splügen nieder.
 
Die Unterteilungen der Holzbauten und die erweiternden Angliederungen wurden immer mehr verfeinert; das Grundmuster aber blieb erhalten. Kellerräume und zusätzliche Stockwerke, die manchmal sogar mit einer Laube versehen wurden, kamen hinzu. Meistens waren Stall und Scheune vom Wohnhaus getrennt, aber nicht immer.
 
Augenschein in Hinterrhein
Die Walser werden als wetterharte und fleissige Bauern beschrieben, die sich in den unwirtlichsten Gebieten durchschlagen konnten und können. Wenn sich der Boden als wenig fruchtbar erwies, setzten sie dem ihre eigene, sprichwörtliche Fruchtbarkeit entgegen – sie vermehrten sich prächtig. Den Schutzherren war das alles nur Recht. Die verstreuten Walser urbarisierten Ödland und halfen bei militärischen Einsätzen tat- und schlagkräftig mit.
 
Da ich selber mit einer Walserin namens Pfosi verheiratet bin und durch die damit angeheiratete Verwandtschaft die Seele dieses gleichzeitig introvertierten und dennoch für Fremdes offenen, sparsamen und doch freigiebigen Volksstamms reichlich ergründen konnte, finde ich meine zu Urteilen gewordenen Vorurteile über das Wesen dieser Menschen in ausgesprochenen Walsergebieten immer wieder bestätigt. Ich kann dazu ein schönes Beispiel auftischen.
 
Werner und ich waren im Dorf Hinterrhein, dem hintersten im Rheinwald, angekommen, umgeben von Mittagshorn, Wälschberg, Bernhardin und Kirchalphorn. Das Dorf, das als älteste urkundlich belegte Walserkolonie gilt, hiess einst „Zum Rin“ und hat gewisse uralte Strukturen unterschiedlicher Art bis heute erhalten, obschon sich westlich des Dorfs, in Richtung Zapportgrat/Höhberghorn, ein riesiger Panzerübungsplatz befindet, der schon seine Spuren hinterlassen hat. Am südlichen Dorfrand bringt die San-Bernardino-Nationalstrasse (A 13) ein ständiges Rauschen in die sonst ruhige Gebirgswelt (rund 1 km entfernt ist das Nordportal des 6,6 km langen San-Bernardino-Tunnels, der ziemlich exakt in südlicher Richtung verläuft). Das Dorf Hinterrhein ist teilweise bereits südlich geprägt – eines der Häuser ist von jener rostroten Farbe, wie man sie im Tessin und in Italien häufig sieht; dieses Haus „zur Post“ passt zur Farbe der Flechten auf dem Steindach, Indikatoren für reine Höhenluft. Die Wohnbauten sind hier bis zu den mit schweren Granitplatten belegten Dächern hinauf gemauert.
 
Bei einem traditionellen Haus am Rande des Dorfzentrums von Hinterrhein (1620 m ü. M.) hatte ein alter, gross gewachsener, leicht vornüber geneigter Mann mit Stirnfalten, blauen Augen unter struppigen, weissen Augenbrauen und kurzem, rassig, tadellos nach hinten gekämmten hellen Haar einen Arm voll zerkleinerte Baumäste im Arm. Er baute mit diesen „Rugeln“ an der Wand seines im Engadinerstil gemauerten Hauses mit den tiefen Fensternischen neben einem hölzernen Wagenrad eine Holzbeige mit exakt ausgerichteter Frontseite auf. „Sind Sie der Johannes?“, fragte Werner den 88-Jährigen. „Ja.“ – „Der Johannes Trepp?“ – „Ja“.
 
Die alten Bekannten begrüssten sich herzlich. Werner rief seine Herkunft in Erinnerung, währenddem Herr Trepp aufmerksam zuhörte und unermüdlich kaute, was seinen leicht vorspringenden Unterkiefer schön zur Geltung brachte. Es sei für mich geradezu ein Erlebnis, einem waschechten Bündner beim Tabakkauen („Schiggen“) zusehen zu können, sagte ich, mich an meinen Schwiegervater, Luzi Pfosi („Neni“) erinnernd, der damit immer einen Hauch von wohltuender Bedächtigkeit zusammen mit einem ganz schwachen Tabakparfüm verbreitete. „Nein, mit Tabak und dergleichen habe ich nichts zu tun“, protestierte Herr Trepp in seiner urtümlichen Sprache. Er kaue bloss an der Wursthaut herum, die beim Mittagessen angefallen war, berichtigte er, „äppes Guetsch“ (etwas Gutes).
 
Wir amüsierten uns alle, und ich hatte wieder einmal ein Beispiel für die walserische Sparsamkeit eingesammelt – da wird alles und jedes verwertet. Die Wursthaut dient als Objekt des Trainings der Kaumuskulatur und vielleicht auch zur Zahnreinigung.
 
Wir bekundeten unsere ehrliche Freude über diese Begegnungen, zumal die Dörfer im Rheinwald an jenem Donnerstag im Übrigen oft ausgestorben zu sein schienen; wahrscheinlich ist es meistens so. Wir wollten noch die kleine Alte Landbrugg bei der Trösbach-Einmündung besuchen, die unterhalb des Dorfs Hinterrhein über den gleichnamigen, jungen Rheinarm führt, der hier bereis stattliche Ausmasse hat. Sie wird auch „Römerbrücke“ genannt, wurde 1692 von Peter Zurr erbaut und gilt als schönste und oberste Bogenbrücke (Doppelbogen) am Hinterrhein.
 
Beherzt durchwaten wir eine Strassenunterquerung, die vor allem dem Rindvieh dient, das hier seine Exkremente zu zusammenhängenden Fladen aufgeschichtet, mit den Klauen eingekerbt und ungleichmässig verteilt hatte, eine ausufernde, expressionistische Malerei. Wir zogen zusammen 4 Schuhe voll heraus, waren glücklicherweise nicht unter hausfraulicher Obhut, ansonsten wir nicht so glimpflich davongekommen wären. Doch war in dieser Phase des Auftauens die weitere Begehung des Wegs unzumutbar. Wir konnten die Brücke, dieses buckelige Meisterstück mit dem leicht begrünten Wegbelag, aus geringer Distanz bewundern. Und weiter oben war eine von Rindvieh verschonte Wiese mit Vergissmeinnichten und Karthäusernelken neben gelbem Löwenzahn ein rar gewordenes Schaustück.
 
Splügen und Umgebung
Unser Interesse an alten Brücken sollte dennoch gestillt werden: Ein eindrückliches Brückenbauwerk kann man in der Rüti an der alten Splügenstrasse erleben: die Nesa-Brücke zwischen Splügen und Sufers. Das heutige Bauwerk entstand 1853 und ist gegenüber der Vorgängerin (1820) etwas flussaufwärts versetzt. Sie erlaubt den Blick in eine wilde Hinterrheinschlucht hinunter und hinauf zu schieferigen oder bewaldeten Steilhängen, die zum Fundament des Teurihorns gehören.
 
Ganz in der Nähe ist zwischen beidseitigen Felsen der Kalkberge eine enge Stelle, wo in den 1940er-Jahren eine 115 m hohe Staumauer geplant war. Von hier aus wäre das ganze Rheinwald auf einer Länge von 9 km unter 280 Millionen m3 Wasser gesetzt worden, selbst das Dorf Splügen wäre in den Fluten versunken. Damals hätte man mit der daraus gewonnenen Elektrizität etwa einen Viertel des gesamtschweizerischen Bedarfs decken können. Aber das Kolonistenvolk der Walser wäre wieder zu einer Abwanderung gezwungen gewesen, und die Leute leisteten einen erbitterten Widerstand, kämpften für ihre Scholle und hatten damit zum Glück Erfolg: Der Schweizer Bundesrat wies Ende November 1946 eine Beschwerde des Kraftwerkkonsortiums gegen den ablehnenden Entscheid der Bündner Regierung ab und besiegelte damit das Schicksal des so genannten „Rheinwaldprojekts“.
 
Das Dorf Splügen (1457 m) auf der obersten Talstufe des Hinterrheins war schon früh elektrifiziert – etwa um 1900. Der Strom wurde zu jener Zeit vom Geometer Christian Hössli (1867‒1902) mit einem auf privater Basis erbauten Werk am Stutzbach erzeugt. Als Werner und ich am Eingang zum Stutztal standen (weiter nördlich schliesst sich das Safiental an), liessen wir uns vom tosenden, sich um grosse Felsbrocken windenden Schmelzwasser beeindrucken. Alte Bauten mit Steinmauern könnten noch aus der Hössli-Phase stammen.
 
Das Dorf Splügen erzählt unverkennbar vom Reiseverkehr, von Warentransporten wie Seide, Baumwolle, Seife und Früchten von Süd nach Nord, und in umgekehrter Richtung reisten Leinwand, bedruckte Baumwolltücher, Sensen, Wachs und dergleichen Italien entgegen. Besonders nach dem Ausbau der Viamalaschlucht war der Verkehr (auch über den San Bernardinopass) rege, auch wenn Lawinen die Reise gefährlich machten, besonders im Winter, wenn Schlitten zum Einsatz kamen. Die Säumer hatten viel Arbeit; das ständige Umladen machte allmählich direkten Strackfuhren Platz. Die meisten Häuser in Splügen sind nicht nach Süden, sondern zu den Saumwegen ausgerichtet. Offenbar war die Säumerei wichtiger als die Sonneneinstrahlung.
 
Der Splügenpass war früher die kürzeste Verbindung zwischen Chur und Chiavenna (Italien, Lombardei). Gewaltige südländische Palazzi der Familien Schorsch, Zoja und von Albertini an erhöhter Lage gehören zum Dorfbild von Splügen. Dort befand sich auch die Susta, das zentrale Warenlager der Splügener Säumer; eine Dorfpartie heisst noch immer „in der Susta". Wir spazierten dort hinauf, zwängten uns neben den Einrichtungen für eine Erdsondenbohrung („Luzi, Bohr-Drilling“) vorbei und erreichten den Dorfteil „Bsetzi“, dessen Name die das noch heute vorhandene Kopfsteinpflaster hinweist. Dort gibt es die hölzernen, angeschwärzten Walserhäuser, als ob sie einen extremen Sonnenbrand hätten. Im erhöhten Eingangsbereich eines Hauses am Dorfrand war eine freundliche, stämmige Frau mit dem Handy beschäftigt, die von Werner mit seinem erstaunlichen Personengedächtnis gleich als Martina Sutter identifiziert wurde und mit der wir einige Worte über den Zustand der heutigen Welt aus der Sicht des Rheinwalds wechselten.
 
Im „Bodenhaus“
Mitten in Splügen drängte sich das behäbige, kubische „Hotel Bodenhaus“ mit seinen dicken, gemauerten Wänden am grosszügigen, leicht schrägen Dorfplatz zur Einnahme einer Wegzehrung geradezu auf, zumal wir um die Mittagszeit dort waren. Der fast klassizistisch anmutende Bau wurde 1722 im Auftrag des Oberrichters Johann Paul Zoja östlich des Sustenbachs erstellt. Seine Familie hatte es mit Warentransporten, Handel mit Importgütern, Zolleinnahmen und Ämtern im Untertanengebiet Veltlin zu einigem Wohlstand gebracht. In den Fluren des Hauses lagerten einst Getreide, Reis, Salz, Früchte, Butter, Käse, Wein, Häute, Silberwaren, Stoffballen usf. Zudem gab es hier Übernachtungsmöglichkeiten. Die Gästebücher sind mit berühmten Namen vollgestopft, sogar jenem des Prinzen Charles Louis Napoléon Bonaparte (1808‒1873), der nach dem Aufstieg nach Splügen seine Karriere noch ausbauen konnte – zum Kaiser von Frankreich (Napoléon III.). Auf seiner 1. Reise in den Kanton Graubünden kam 1872 auch Friedrich Nietzsche hier vorbei ... und nicht zu vergessen, sind Werner Allemann und meine Wenigkeit, die dummerweise den Eintrag ins Gästebuch verpasst haben und es zukünftigen Chronisten schwer machen werden. Wir bitten sie, das Versehen zu entschuldigen und uns nicht mit Ignoranz zu bestrafen.
 
Das Mittagessen – , eine Zucchettisuppe, mit Dörrzwetschgen gefüllter Schweinebraten, dem Aargauer Braten ähnlich, und knackiges Gemüse (CHF 19.50) – war ein Festessen, und natürlich drängte sich dazu ein Glas ungehobelter Veltliner (Triacca, „Patriziertrunk“) auf.
 
Meine Aufmerksamkeit galt nicht nur dem braunen Specksteinofen mit einem alten, bemalten Kaffeetopf drauf im schön und mit festen, sauberen weissen Tischtüchern gedeckten Raum mit den Gewölbebögen, sondern auch der zierlichen Stéphanie. Zusammen mit einem fleissigen Kellner nahm sie sich uns an und instruierte uns darüber, wie man ein Kaffeerahm-Becherchen aus Plastik öffnet, ohne das homogenisierte Zeug zu verschütten. Sie stamme aus der Rheinland-Pfalz, genau genommen aus dem Westerwald, antwortete sie auf meine entsprechende Frage. Wie sie denn in dieses Hochgebirge gekommen sei, schob ich nach: „Durchs Arbeitsamt. Und es gefällt mir hier ausgezeichnet.“ Und Werner verführte die liebenswürdige Serviererin dazu, eine Strophe des Lieds „Oh du schöner Westerwald“ zu singen. Stéphanie schaute in der Gaststube umher, die sich bereits ziemlich geleert hatte, und sang mit glasklarer, von leichtem Heimweh erfüllten Stimme die erste Strophe bis zum Refrain: 
„Oh du schöner Westerwald
Über deine Höhen pfeift der Wind so kalt:
Jedoch der kleinste Sonnenschein
Dringt tief in's Herz hinein.“ 
Abstecher auf den San Bernardio
Was kalte Winde bedeuten, erlebte auch ich gerade im Rheinwald. Bei der Anreise mit dem Zwischenhalt in Zizers, wo wir einige Waren zurückliessen, wurde von meiner hilfsbereiten Schwägerin Ruth irrtümlicher auch meine Weste ausgeladen, so dass ich nun nur in einem kurzärmeligen Hemd im Hochgebirge stand – ich kam mir vor wie die Ausländer, die in Stöckelschuhen das Jungfraujoch besuchen. Besonders durchdringend war die höchstens 9 °C kalte Luft auf dem San-Bernardino-Pass oben, wo es noch stattliche Schneeresten gab und ein Wind aus Süden Nebelwolken über die Passhöhe auf 2065 Höhenmetern blies. Wir hatten es uns nicht nehmen lassen, dort hinauf zu fahren, um das Rheinwald-Bild zu vervollständigen.
 
Der See auf der Passhöhe war im Wesentlichen noch zugefroren, abgesehen von einigen matschigen Stellen im Uferbereich. Das noch geschlossene Hospiz könnte eine Erneuerung sehr wohl ertragen. Ob das noch rentiert? Der meiste Verkehr verläuft im Strassentunnel durch das Gebirge, nimmt die Abkürzung. Damit verpasst man die Reiz der Passfahrt. Die Strasse wird ist auf der Bündnerseite von Natursteinmauern und Abschrankungen aus gehauenen Steinen und gesägten Baumstämmen begleitet. Im unteren Teil ist der Strassenverlauf gefaltet wie ein Blätterteig vor dem Auswallen: Eine enge Serpentine nach der anderen zwingt zum Drehen um 180 Grad – 16 Mal. Zwischen Bäumen ist die Rheinwald-Talschaft zu überblicken, falls man als Chauffeur nicht gescheiter seine Konzentration auf die Strasse richtet – man darf keine einzige Kurve verpassen. Weiter oben verläuft die Passstrasse weniger kurvenreich, vorbei an einer riesigen Tunnel-Entlüftungsanlage.
 
Bei einem schäumenden Bergbach, der sich unter meterdickem Schnee durchgefressen hatte, musste ich anhalten, um die Naturgewalt, für die es keine Hindernisse gibt, hautnah zu erleben – ein Eindruck hemdsärmeligen Gestaltens und Wirkens, wie ich kurzärmelig feststellte. Eva, die in Zizers geblieben war, erliess später, aufgrund meiner Schilderung, hinterher ein neues Gesetz: „Ein Pullover gehört immer ins Auto.“ Doch können solche Erlasse nie rückwirkend sein.
 
Die Rheinwalddörfer
Bald kehrten wir um, fuhren die gleiche Strecke zurück; die Prius-Batterien luden sich bis zum Bersten auf. Weil der Bericht bisher in thematischer Bündigkeit ausgefallen ist, soll hier noch die Reihenfolge der Dörfer von oben nach unten (von West nach Ost) aufgelistet werden: 
Hinterrhein
Nufenen
Medels
Splügen
Sufers. 
Südöstlich dieser Route liegt in einem Hochtal Avers, das wir uns bei einer nächsten Exkursion vornehmen wollen.
 
Sufers: Anfang und Ende
An dieser Stelle möchte ich nur noch einige Worte über Sufers am Ein- beziehungsweise Ausgang des Rheinwalds verlieren, zumal es das älteste Dorf im Tal ist und seinen eigenen, 0,9 km2 bedeckenden Stausee hat, wo sich noch vor rund 60 Jahren eine Fluss- und Auenlandschaft ausbreitete. Die Bogenstaumauer, 1956‒1963 entstanden, ist 58 m hoch und 125 m lang. Aus diesem Stausee Sufers kann Wasser ins Ausgleichsbecken Ferrera bzw. in den Stausee Valle di Lei gepumpt werden. Die Speicherpumpen sind in der Zentrale Ferrera installiert. Die Anlage gehört zu den Kraftwerken Hinterrhein in Thusis.
 
Das Dorf wurde 1638 und 1732 von Bränden heimgesucht, worauf das Brotbacken in den Stubenöfen und die Buuchi (grosse Wäsche) in der Küche verboten wurden. Seither hat sich das Dorf mit den eng ineinander geschachtelten Holzbauten nur wenig verändert.
 
Die Kirche von 1618/25 ist aussen und ihnen schlicht, wie eigentlich alle reformierten Gotteshäuser in dieser Gegend. Das Schiff ist von eine flachen Leistendecke überdeckt, und der Chor besteht aus einem rippenlosen Kreuzgewölbe mit vorgezogenen Gräten. Ein altes, rundes Taufbecken als Rundschale auf einem kräftigen, runden Sockel dürfte aus einem älteren Kirchenbau stammen. Das Steinkonglomerat ist herb, rustikal, ansprechend. Die Ecken sind aussen mit verblassenden Scheinquadern in Sgraffito dekoriert. Im angrenzenden Friedhof bestehen viele Grabsteine aus dem grünlichen Andeerer Granit. Der Verputz der Umgebungsmauer ist rau, der Bündner Mentalität entsprechend.
 
Das war’s dann. Die untere Grenze zwischen dem Rheinwald und dem Schams liegt wahrscheinlich bei der ehemaligen, 1604 erstellten Punt Traversa westlich der Roflaschlucht und der heutigen A 13-Strassenbrücke. Von der Traversabrücke ist höchstens noch ein Pfeilerfragment erhalten. Gelegentlich wird auch das Felsentor in der Sassaplana, das so genannte Rheinwalder Törli, als Beginn oder Ende des Rheinwalds betrachtet.
 
Der Tag blieb trocken, verschonte uns vor einer neuen Taufe. Doch tranken wir vom Dorfbrunnen Sufers, der mit 2 dicken Röhren ausgestattet ist, noch einige grosse Schlucke kaltes Wasser, verleibten uns damit etwas Rheinwald in erfrischender Form ein – Suferser Wasser ... zumal schon der Ortsname zum Suufe (Saufen) einlädt. Vor allem aber zum Verweilen – mit Stauseeblick. Und genau dafür fehlte mir die Zeit.
 
 
Quellen
Hössli, Christian: „Splügen – heute und in der jüngsten Vergangenheit“, im „Jahresbericht der Walservereinigung Graubünden 2008“. Adresse: Walservereinigung Graubünden, Dischmattstrasse 73, CH-7260 Davos Dorf.
Luzi, Anton (Filisur): „Rheinwald, das Tal des Verkehrs und seine Geschichte“, handgeschriebene Broschüre, Kopier- und Textildruck Thusis, 3. Auflage 2001
Naturforschende Gesellschaft in Zürich (Herausg.): „Der Rhein – Lebensader einer Region“, Verlag Koprint AG, Alpnach Dorf 2005.
Poeschel, Erwin: „Zur Kunst- und Kulturgeschichte Graubündens“, Kommissionsverlag Berichthaus Zürich 1967.
Wanner, Kurt: „Region Rheinwald-Avers“, Verlag Terra Grischuna, Chur 1990.
Wanner, Kurt: „Sufers, das älteste Dorf im Rheinwald“, Verlag Bündner Monatsblatt, Chur 1990.
 
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