Textatelier
BLOG vom: 04.06.2010

Stadt Zug: Die Merkmale einer einzigen Erfolgsgeschichte

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
In der Altstadt von Zug, Hauptort des gleichnamigen Kantons, fühlt man sich in ein aufpoliertes Mittelalter zurückversetzt. Die um etwa 500 Jahre zurückliegende Spätgotik blüht hier weiter. Nur ein reiches Gemeinwesen kann sich die Erhaltung und Pflege einer derart feingliedrigen Innenstadt leisten. Die herkömmliche wirtschafts- und finanzmarktfreundliche Gesinnung ist ein Bestandteil einer schon fast einzigartigen Erfolgsgeschichte, die wie die Sonderformen der Spätgotik ebenfalls eine Spezialität des Orts ist. Die museale, handwerklich geprägte Altstadt (an der Goldgasse wirkten beispielsweise die Goldschmiede) lebt, doch ist sie nur eines von 11 Stadtquartieren, die um sie herum entstanden und zusammengewachsen sind. Zusammen mit Baar, Cham und Steinhausen ist eine einzige grosse Agglomeration entstanden, wesentlich gefördert durch die Discount-Steuertarife. Den Stadtbäumen gewährte man bei all dem Bauboom der letzten Jahrzehnte immerhin den nötigen Raum.
 
In diesem von einem gütigen Schicksal bevorzugten Zug leben Menschen aller Art, Banken, Briefkastenfirmen, Treuhänder und Holdings bestens. Rigi, Pilatus, schneeweisse Innerschweizer Berge und der sanft auslaufende Lindenberg im Westen bilden den weiten Rahmen um die sich ständig ausdehnende Stadt am Zugersee, welche die Grundlagen für einen noblen Lebensstil ohne Begleitspektakel geradezu anzieht, wie seit je. Hier haben sich Wohnlichkeit und selbstbestimmte Weltoffenheit zu einem heimeligen Wirtschaftswunderland verbunden, in dem man sich nicht allein an Zuger Rötel (aus der Familie der Wandersaiblinge, Salvelinus alpinus) und Zuger Kirschtorte stärken kann. Wir verpflegten uns auf der grossen Terrasse des Seerestaurants Casino an der Artherstrasse 2‒4 mit Gemüsecrèmesuppe, Fischknusperli und Sauce Tartare, Gemüse und einer Erdbeerschnitte. Ein Petit Arvine aus dem Wallis mit straffer Säure und angenehm krautigem Aroma war das Tüpfchen auf dem i, wie auch der Blick über Platanen hinweg auf den ruhigen, leicht überdüngten See.
 
Die vielen Zeiten von Zug
Einen besonders guten Überblick über die Zuger Altstadt, den See und die weitere Umgebung am Übergang zwischen Mittelland und Voralpen gewinnt man von der Wachtstube zuoberst im Zytturm aus, der normalerweise geschlossen ist. Die Schlüssel können tagsüber beim nahen Polizeiposten ausgeliehen werden. Ich hatte das Glück, nach der Jahresversammlung des Schweizerischen Vereins für die deutsche Sprache (SVDS, Präsident: Johannes Wyss, Thalwil ZH) einer innerstädtischen Exkursion mit Dr. Peter Ott, ehemaliger Chefredaktor des Schweizerischen Wörterbuchs „Idiotikon“ und SVDS-Vorstandsmitglied, teilzunehmen. Er sprach langsam, deutlich, eine druckreife Mundart und erwies sich als kompetenter, tiefschürfender Lokalhistoriker. Der nachfolgende Bericht über diesen Rundgang enthält meine persönlichen Kommentare zu dem, was wir gesehen haben, wie es sich für ein Tagebuchblatt gehört. Es liegt mir fern, meine kruden Gedanken einem sachlich informierenden Reiseführer unterzujubeln.
 
Der erwähnte Zytturm (Zeitturm) wuchs ab dem 13. Jahrhundert aus einem einfachen Durchlass im ältesten Mauerring des Kyburgerstädtchens heran – die Kyburger machten Zug zur Stadt, auch wenn diese damals erst 400 bis 500 Einwohner zählte, entsprechend etwa Mellingen AG, Bremgarten AG und Brugg. Die Kyburger waren also vor den Habsburgern da; sie erkannten die verkehrsgünstige Lage. Die Habsburger ihrerseits verstärkten die Zuger Stadtbefestigung, zu welcher der Zytturm (andere mundartliche Schreibweise: Ziitturm) gehörte, der ständig erhöht wurde und seit 1557 die heutige Grösse aufweist. Allerdings verlief nicht immer alles problemlos: Am 04.03.1435 versank die damalige Untergasse zusammen mit den am See liegenden Häusern im Zugersee. Bei jenem Erdbeben starben 60 Menschen, und 26 Häuser wurden zerstört. Doch solch Rückschläge waren in kurzer Zeit überwunden. Neues Leben blühte auf, bis Zug in den Standortqualitätsindikatoren regelmässig einen der Spitzenplätze zu schmücken begann.
 
Zu einer guten Lebensqualität gehört natürlich auch, dass man jederzeit weiss, was es denn geschlagen habe. So hat der rund 52 Meter hohe Zytturm, wohl um seinen Namen zu rechtfertigen, unterhalb der normalen Stundenuhr eine astronomische Uhr mit 4 Zeigern, die in vermeintlich wirrer Art rotieren. Doch nehmen sie in Tat und Wahrheit eine umfassende Informationsaufgabe wahr. Einer der Zeiger, der wie ein Pfeil aussieht, zeigt die Wochentage, umrundet das Zifferblatt dementsprechend einmal pro Woche. Ein anderer Zeiger mit der goldflammenden Sonne vollzieht seinen Kreis adäquat zum Tempo des Monds (einmal pro astronomischem Monat: 29 Tage, 12 Stunden, 44 Minuten und 2,8 Sekunden), und ein kleiner Zeiger mit dem Buchstaben S an der Zeigerspitze nimmt es besonders gemütlich: er richtet sich auf die Schaltjahre aus und absolviert den Kreis infolgedessen einmal in 4 Jahren. So wandern die 4 Zeiger ganz nach ihrem eigenen Tempo rund ums Zifferblatt. Die Mechanik dieses Wunderwerks wurde immer wieder neuen Erkenntnissen angepasst, letztmals 1955. Unterhalb der Fenster der Turmstube, die mit Geranien geschmückt sind, kreist eine schwarz-goldene Kugel mit dem Auftrag, den Mondstand anzugeben.
 
Im Turm drinnen ist ein kleines Feuerwehrmuseum, und es wird dargestellt, wie bei Überschwemmungen am Kolinplatz innert kurzer Zeit eine vorbereitete, hölzerne Wassersperre aufgebaut werden konnte. Im oberen Teil sind 2 Verschläge aus massiven Brettern, die zum Beispiel aus Ausnüchterungszellen gedient haben sollen. Wie es möglich war, einen Betrunkenen über die schmalen und steilen Holztreppen hinauf zu bugsieren, konnte selbst Peter Ott nicht sagen. Wahrscheinlich waren die Säufer ziemlich nüchtern, als sie endlich oben ankamen.
 
Am Kolinplatz
Vor dem Zytturm ist der historisch bedeutende Kolinplatz mit dem berühmten Kolinbrunnen, auf dessen Brunnenstock seit dem 16. Jahrhundert ein Fähnrich mit der Zuger Standarte steht. Er ist einer von zahlreichen schönen Zuger Brunnen, wovon der Greth-Schell-Brunnen der zweifellos originellste ist: die Zuger Fasnachtsfigur Greth Schell trägt in gebückter Haltung ihren mit einer Narrenkappe gekennzeichneten, betrunkenen Gatten nach Hause. Und der modernste ist der Sodbrunnen in der Ober Altstadt: Die elegante Konstruktion, ein Wasserzylinder aus Chromstahl, über den immer Wasser rinnt, steht an der Stelle, wo es früher einen Sodbrunnen gab, von dem nur einige Kreisringe im Boden übrig blieben.
 
Am Rande des Kolinplatzes steht das Stadthaus, das bei unserem Rundgang am 29.05.2010 von einer Hochzeitsgesellschaft belagert war. Auf der Fassade ist die „Kappeler Milchsuppe“ mit wenig historischem Bezug hingepinselt, bei der Religionskonflikte ausgelöffelt wurden; am Hochzeitsessen dürfte es wahrscheinlich etwas anderes als Milch und Brot gegeben haben.
 
Am Rande des Platzes steht auch das wuchtige Hotel Ochsen mit Erker, kurzen Klebdächern, dem Treppengiebel; das Haus wurde 1544 im Auftrag von „Pannerherr“ Wolfgang Kolin gebaut. In ihm verkehrten illustre Gäste wie Johann Wolfgang von Goethe (Ott: „Wo verkehrte der eigentlich nicht ...?“), Karl Borromäus, Klopstock und der französische Bürgerkönig Louis Philippe.
 
Zu Oswalds Ehren
In der unmittelbaren Nähe befindet sich die spätgotische Kirche St. Oswald, deren Bau 1478 am äussersten Ausläufer der Oswaldverehrung unter der Leitung von Hans Felder dem Älteren begann. Der um 604 geborene, heilig gesprochene Oswald von Northumbrien, dieser als mildtätig geltende, merkwürdige Schutzpatron für Stadt und Kanton Zug, liess im Kampf mit dem Heidenkönig Aron etwa 30 000 angelsächsische Heiden umbringen. Um ihn nicht als vollendeter Böswicht in die Geschichtsbücher eingehen zu lassen, wurde anschliessend eine Legende erfunden, wonach er alle umgebrachten Heiden wieder zum Leben erweckte ... Da wurde also etwas dick aufgetragen. Oswald wurde 642 in der Schlacht von Manserfield (nahe bei der walisischen Grenze) selber getötet und von seinem mercischen Gegner Penda in Stücke gehackt, was ihm die Märtyrer-Karriere eröffnete. Laut dem Historiker Ott wurde üblicherweise bald einmal heiliggesprochen, wer im Kampf gegen die Heiden fiel.
 
Die Kirche zu Oswalds Ehren wurde aus Sandstein erbaut und besass zuerst nur ein einschiffiges Langhaus, den Chor und den Turm. Dann wurde (1494‒1496) das Kirchenschiff verlängert, und später kamen ein nördliches und auch ein südliches Kirchenschiff hinzu. Über einem Eingangsportal stellt der fromme Oswald seinen Fuss auf einem Türkenkopf mit Turban ab, ein Zeichen des Siegs über uns Heiden; er steckt gleichzeitig mit theatralischer Geste das Schwert in den Brustkorb eines Gegners.
 
Die Innenausstattung des Kirchenraums wirkt etwas zusammengestückelt, lässt wegen dieser Überladenheit und der Drohbotschaften keine besinnliche Stimmung aufkommen – so empfand ich es jedenfalls. Von oben wird mit dem malerischen Holzhammer gewunken: „Jedem wird vergolten nach seinen Werken. Wer nicht glaubt ist schon gerichtet“, liest man in einem offenen Buch. Ein Werbespot von damals, von einer himmlischen PR-Agentur ersonnen. Das Chorgestühl und die Figuren an den Chorpfeilern schuf Ulrich Rosenstain aus Lachen SZ; die Orgel steckt in der alten Hülle von 1765 von Viktor Ferdinand Bossard aus Baar.
 
Das Rathaus mit dem Gotiksaal
Demgegenüber hat der Gotische Saal des Rathauses Zug zwischen Fischmarkt und Unter Altstadt, in dem die SVDS-Jahresversammlung 2010 stattfand, mehr Stil; darin fühlt man sich wohler, behaglicher – Kunst um der Kunst willen, ohne Indoktrinationsabsichten. Das Ratshaus, im Eigentum der Zuger Bürgergemeinde, ist eines der bedeutendsten profanen Baudenkmäler der Schweiz. An ihm wirkte übrigens der gleiche Zuger Steinmetzmeister Heinrich Sutter mit, der auch für die Oswald-Kirche tätig war. Der Gotiksaal des Rathauses ist eine grosse Täferstube mit durchbrochen geschnitzten Verzierungen aus Lindenholz: ständig wechselnde Laubwerkmotive als Band an der Diele und eine Art Vorhang über den Fenstern.
 
Sehenswürdigkeiten in Serie
Wer aus irgendeinem Fenster auf Zug schaut, erblickt eine förmlich unbeschreibliche Fülle von Einzelheiten, die eine nähere Betrachtung rechtfertigen würden. Und eine Darstellung wie dieses Blog oder eine Stadtführung können nur eine kleine Auswahl davon berücksichtigen. So streiften wir unter Peter Otts Führung noch die Zuger Burg als ältester Siedlungsteil des Orts (aus dem 11. Jahrhundert). Die Burg wurde unter einer vom Burgbach umflossenen Insel auf Veranlassung der Grafen von Kyburg gebaut und dann zum Verwaltungssitz der Grafen von Habsburg umfunktioniert. Im 16. Jahrhundert kam eine Zinnenmauer dazu. Seit 1983 ist in der Burg ein historisches Museum untergebracht.
 
Einen musealen Charakter hat auch das Kapuzinerkloster Zug, das heute ebenfalls im Eigentum der Bürgergemeinde ist, die das Bauwerk zusammen mit seiner ursprünglichen Zweckbestimmung erhalten will, nachdem die Kapuziner ausgezogen sind. Personalmangel. Aber ein geeigneter Orden fand sich nicht mehr. Doch gelang es endlich, die Gemeinschaft der Seligpreisungen hier unterzubringen. Die Jahresmiete wird vom Verein Kapuzinerkloster finanziert. Der Kirchenraum ist eher schlicht ausgestattet, der von den Kapuzinern befolgten Bescheidenheit entsprechend, und er wird deshalb gern aufgesucht.
 
Wir beendeten den Rundgang bei einem für Zug typischen Bauwerk: der Oberen Münz, dieser ehemaligen Münzstätte, eine der grössten und dekorativ, im Stil des 17. Jahrhunderts bemalten Profanbauten von Zug. Mit diesem Bauwerk wurde 1580 begonnen. Laut dem Historiker Ott lohnte sich das Prägen von Münzen immer, besonders wenn kleine Manipulationen an der Legierung unbemerkt möglich waren.
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In Zug kann man Geld gut gebrauchen. Ich erfuhr das erstmals im Februar 1963, als Eva und ich dort ein schlichtes Hochzeitskleid kauften, ein Jackenkleid (mundartlich: „Schagget“) mit einem Jupe, der knapp die Knie bedeckte. Die Kombination bestand aus einer Mischung von Baumwolle und Seide, in einem hellen Écru (crèmefarbig). Was es kostete, kann ich nicht mehr sagen, wahrscheinlich gegen 300 CHF, was für uns eine enorme Ausgabe bedeutete. Eva veranstaltete soeben eine erfolglos verlaufene Suchaktion nach diesem historischen Stück auf dem Estrich.
 
Ich wollte mich (schon damals) nicht lumpen lassen. Das war auch der Grund dafür, dass wir ins noble, mondäne Zug auf Einkaufstour fuhren. Mit dem heutigen Wissen kann ich das erst recht verstehen.
 
Quellen
Mündliche Ausführungen von Peter Ott.
Reiseführer „Zug. Stadt und Kanton“ von Sybille Omlin, Christian Raschle, Sonja Staufer und Josef Wüst; Balmer Verlag, Zug 2002.
Prospekte, herausgegeben vom Verkehrsverein Zug und Zug Tourismus.
 
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