Textatelier
BLOG vom: 24.12.2009

Die Weihnachtsgeschichte: Der Greis und die Patrizierin

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Der Greis lebte in einem stattlichen, doch baufälligen Palast, von einem verwilderten Garten umringt. Nur 2 der vielen Räume bewohnte er, um Heizungskosten zu sparen. Im Verlauf der Jahre hatte er viele Bilder verramscht, ausser einem. Er war knapp bei Kasse. Missmutig schlurfte er ans Fenster und starrte in die pechschwarze Nacht und erinnerte sich besserer Zeiten, wie alle Jahre um diese Zeit wieder. Sein Gesicht erhellte sich.
 
Er drehte sich vom Fenster ab und sein Blick verlor sich im Ölbild einer jungen Patrizierin. Mit einem Lappen befreite er sie vom Staub und betrachtete sie eingehend. Sie sass mit einer bunten Haube, die einem Turban glich, in einer Riesenhalle, von Marmorsäulen abgestützt. Sie schaute an ihm vorbei, allem Anschein nach in ihre eigenen Gedanken versponnen. „Gut, dass ich sie behalten habe“, murmelte er. Selbst ein alter Mann kann sich am Liebreiz einer schönen Frau erlaben. Aber mehr darf er sich weder erlauben noch erhoffen.
 
Eine alte Gewohnheit hatte der alte Mann beibehalten. Gewohnheitsmässig ergriff er die Flasche Cognac. Rechtzeitig hielt er inne. Beinahe hätte er den Cognac in eine Vase, statt ins Gläschen nebenan eingeschenkt. „Das wäre des Guten zu viel gewesen“, grinste er. Er hätte sich angesichts der Dame schämen müssen.
 
Mit dem Glas in der Hand schubste er die Seitenflügel zum Esszimmer nebenan auseinander. Einmal im Jahr, am Weihnachtsabend, betrat er diesen Raum. Einmal im Jahr knauserte er nicht. In der Vorwoche hatte er dieses Esszimmer, eigentlich ein Saal, aufräumen und putzen lassen. Sogar die Kerzenständer aus Silber waren auf Hochglanz poliert. An beiden Enden des langen Tischs aus Mahagoni war je ein Satz des Geschirrs für mehrere Gänge, mitsamt Besteck, für den festlichen Anlass bereit und ausgerichtet. Ein Kaminfeuer prasselte unter dem marmorverkleideten Cheminée.
 
„Du kannst jetzt auftischen“, wandte sich der Greis an einen ebenfalls hochbetagten Diener, der nur einmal im Jahr, am Weihnachtsabend, erschien. „Das reicht“, winkte er ab, nachdem der Diener verschiedene Schüsseln auf dem Tisch verteilt hatte, „aber schenke uns die Suppe ein, ehe du gehst.“
 
„Noch einen Augenblick“, erinnerte er sich, „hole die Musiker“. Der Diener humpelte zum verschossenen Samtvorhang, zog ihn etwas auseinander und legte eine Schallplatte auf. Mehrere entkorkte Flaschen Wein waren zum Ausschank bereitgestellt.
 
„Endlich sind wir allein und ungestört, “ wandte er sich ans andere Tischende. Galant erhob er sich und ging behänder als sonst und füllte galant das Glas vor dem leeren gepolsterten Stuhl mit hoher geschnitzter Rückenlehne. Ehe er seinen Platz bezog, schaltete er den Plattenspieler an und drehte die Lautstärke voll auf. Als er sein Glas gefüllt hatte, hob er es hoch und sagte: „Zum Wohl, meine Liebe!“  Er füllte seinen Suppenteller und faltete seine Serviette auseinander. Die Kaminuhr schlug 8 Uhr, dem Takt der Musik nachhinkend.
 
Der Greis löffelte seine Suppe schweigend aus und wischte sich nachher den Mund. Heute Abend war er hungrig und füllte seinen Teller ohne Zeremoniell mit zugeschnittenen Scheiben einer Lammkeule, Bratkartoffeln und Wintergemüse und übersprenkelte das Gericht mit Sosse, ehe das Essen ganz erkalten konnte.
 
„Hat es geschmeckt?“ befragte er das andere Tischende. Die Antwort befriedigte ihn. „Gut so!“  sagte er und füllte sein Glas nach. Aus der Westentasche zog er eine Schatulle und öffnete den Deckel. Der Diamantring glitzerte. Er war sich wohl bewusst, dass die Dame am Ende des Tisches ein Zauberbild seiner Imagination war und sie ihm nicht ihre Hand reichen konnte, damit er ihr das Geschenk, das seiner Gattin selig gehörte, über ihren Ringfinger streifen konnte. So schob er ihn über seinen kleinen Finger. Die Patrizierin auf dem Ölbild hielt ihre zartgliedrige Hand gegen ihren Hals abgewinkelt erhoben. Die Kraft seiner Vorstellung liess den Ring dort an ihrem Finger aufblitzen.
 
Eine Wehmut schlich sich sanft und sachte ins Herz des alten Mannes. Vielbeschäftigt, wie er einst gewesen war, blieb manches zwischen ihm und der Patrizierin ungesagt und vernachlässigt. Das holte er jetzt auf und machte seine damaligen Versäumnisse wett. „Erinnerst du dich an Florenz im Sommer 1944? Ich war in ein Gespräch vertieft. Ein junger Mann forderte dich zum Tanz auf.“
 
Die Musik verstummte. Er erhob sich und legte die Platte auf die andere Seite. „Genau dieser Strauss-Walzer erklang, als du Kreise mit ihm gedreht hast. Umsonst hast du gewartet, dass ich dich zum Tanz lade … Aber jetzt tanzen wir miteinander!“ Ja, der Greis erhob sich jetzt und drehte in sich versunken einige Kreise um sich selbst allein herum. Etwas taumelig geworden, erreichte er wieder seinen Platz, füllte nochmals sein Glas nach und fühlte sich behaglich erwärmt.
 
„Was bietet mir das Alter noch ausser Reminiszenzen?“ befragte er sich weich aufseufzend. In seinen Erinnerungen spann er den Bilderbogen aus seinem Leben fort. „Wie oft bin ich nicht frühmorgens aufgestanden und habe meine Bettgenossin kaum bemerkt, schon gedanklich im Alltag eingespannt? Morgen früh, wenn ich aufwache, werde ich zärtlich dein schwarzes Haar durch meine Hand gleiten lassen und dich küssen“, versprach er ihr.
*
Der Erzähler beendet hier die Geschichte, ehe sie begonnen hat. An diesem Weihnachtsabend soll keine Tragik mit einfliessen, die im Leben des Paares nicht gefehlt hat. Er legte seine Träumereien neben sich ins Bett. Die Kerzen erloschen eine um die andere und hinterliessen Rauchfäden, das Kaminfeuer glühte noch ein Weilchen weiter. Er streifte den Ring noch von seinem kleinen Finger und versorgte ihn im Schächtelchen – bis zur nächsten Weihnacht. „Das war doch schön, dieser Abend mit dir“, wandte er sich nochmals an seine Patrizierin, ehe er einschlief.
 
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