Textatelier
BLOG vom: 06.11.2009

Wie die Gilberte in Courgenay und Pruntrut auferstanden ist

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Vom Alten Fritz in Cornol (Kanton Jura) nach Courgenay ist es nur ein Katzensprung, falls Katzen Sprünge über 2,5 km schaffen. Beide Orte gehören zum Bezirk Porrentruy (Pruntrut). Es sind folglich Bestandteile des Pruntruter Zipfels, der ins Land Frankreich hinein ragt und dem man auch Ajoie sagt. Der Jura-Hügelzug verfliesst dort tafelartig, hat seine wilden Kluften im Norden hinter sich gelassen. Das überflüssige Wasser sammelt der Fluss Allaine (im Unterlauf L’Allan geheissen), der den Weg Richtung Boncourt nimmt, wo das Gewässer die Schweiz verlässt und über das Territoire de Belfort dem Doubs zuströmt.
 
In Regionen in der Nähe der Landesgrenze sind in schwierigen Zeiten jeweils viele Soldaten stationiert, und das war während des 1. Weltkriegs (1914‒1918) auch in der Ajoie und damit in Courgenay der Fall. Dem Gebiet kam militärstrategisch eine grosse Bedeutung zu, war es doch von Deutschen und Franzosen bedroht, also eingeklemmt zwischen 2 verfeindeten Mächten, deren Soldaten in Schützengräben eine scheussliche Zeit verbrachten.
 
Im dortigen Hôtel de la Gare, wo auch Truppen von Major Wilhelm Hugo Francke einquartiert waren, hatte das Wirte-Ehepaar, Gustave, ein Uhrmacher, und Lucine Montavon-Laville, 3 Töchter, deren eine die charmante Gilberte Elisa (1896‒1957) war. An ihr hatten sozusagen alle den Narren gefressen, war es doch ein Naturwesen voller Herzlichkeit. Das ging so weit, dass ihr der Volksliedspezialist und Soldatensänger Hanns In der Gand (eigentlich Ladislaus Krupski, 1882‒1947), der mit der Geistigen Landesverteidigung beauftragt war, mit dem berühmen Gilberte-Lied (siehe Anhang) ein herzergreifendes Denkmal setzte. Die beiden anderen, älteren Töchter waren Fernande und Camille, die sich aber mit den deutschsprachigen Soldaten weniger gut verständigen konnten – Gilberte hatte den Vorteil, 1 Jahr lang in der Deutschschweiz gewesen und damit zweisprachig zu sein. Sie war die hübscheste der 3 Schwestern, wie sich Eliane Chytil-Montavon, die wir zufällig in Pruntrut kennen lernen sollten, aus persönlicher Anschauung erinnerte, „ihr schwarzes, glattgescheiteltes Haar umrahmte ein rundes Gesicht mit herzigen Grübchen“. Zudem war Gilberte gebildet, konnte Bridge spielen, war unternehmungslustig, immer zu einem Spass bereit. Ihre beiden Brüder waren Gustave und Paul; Letzterer komponierte später „Le Salut à l’Ajoie“ (Gruss an die Ajoie).
 
Der Mythos
Gilberte konnte sich nach langer Zeit noch an die Namen der Soldaten erinnern, die ihr einmal begegnet waren, und das machte schon Eindruck, wie ich von Frau Chytil erfuhr. „Wie viele Soldaten und Offiziere kennen Sie, Gilberte?“, fragte sie Hanns In der Gand einmal. Die Antwort: „300 000 und alle Offiziere“ – und das inspirierte den Musiker 1917 zu seinem Lied „La Petite Gilberte de Courgenay“, das im Übrigen in deutscher Sprache geschrieben war (mit Ausnahme des in Französisch verfassten Refrains) und welches der Anfang des Gilberte-Mythos war, der besonders zu den bewegten Zeiten des 2. Weltkriegs aufs Neue erwachte. Gilberte wurde zudem zum 25. Jahrestag der Grenzbesetzung zur Hauptfigur eines Romans und eines Theaterstücks von Rudolf Bolo Maeglin (Premiere: 1939) und zweier melodramatischer Filme („Marguerite et les soldats“ 1940‒41 und „Gilberte de Courgenay“ 1941), was sie zu einer legendären, patriotischen Figur machte. Die Rolle der Gilberte spielte Anne-Marie Blanc. Und 1989 nahm eine wandernde Theatergruppe das Stück wieder auf – übrigens alles in deutscher Sprache, denn besonders populär war Gilberte in der Deutschschweiz.
 
Einer spontanen Eingebung folgend, hatte ich einen Apéro-Zwischenhalt in Courgenay in unser Jura-Reiseprogramm aufgenommen. Weil ich bei meinen Exkursionen regelmässig von glücklichen Zufällen geradezu verfolgt bin, konnte es nicht ausbleiben, dass die Stadtführerin, die wir über die dienstfertige Leiterin des Büros „Jura Tourisme“ in Porrentruy, Anne-Marie Maître, organisiert hatten, die Nichte von Gilberte war: die bereits oben erwähnte Eliane Chytil-Montavon. Sie hatte ihre Tante Gilberte persönlich gekannt und war bei ihr in Zürich in den Ferien gewesen. Ihre Väter waren also Brüder, und Gilbertes Vater, Gustave Montavon, kaufte das Hôtel Bahnhof 1906 und baute 1908 den grossen Saal an. So haben wir sozusagen aus erster Hand vieles über die berühmte Gilberte und ihr Leben erfahren. Zudem hatte ich im Bahnhof-Hotel das Buch „Gilberte de Courgenay“ von Damien Bregnard (4. Ausgabe) gekauft (39 CHF), dem einige Angaben entnommen sind, so dass ich mir nun ein einigermassen gutes Bild machen kann.
 
Eine ergiebige Informationsquelle ist auch das Innere des Hôtel de la Gare im Bahnhofquartier von Courgenay, das den Geist der damaligen Zeit noch atmet, obschon es 2001 renoviert wurde – offenbar geschah dies mit der gebotenen Zurückhaltung. Heute ist es im Besitz der Stiftung „Gilberte de Courgenay“.
 
Während wir einen Cynar genossen, schauten wir die Gemälde und Fotos an den Wänden an, die über Gilbertes Familie und Kindheit, aber auch über die Kriegsjahre nach 1914 Auskunft geben. Ein Grossformat-Wandgemälde von Georges Vittini aus dem Jahr 1949 zeigt, wie das beliebte Mädchen von Soldaten umschwärmt wird.
 
Gilberte zügelte im Zusammenhang mit der Verheiratung mit dem St. Galler Kaufmann Louis Schneider 1923 nach Zürich, wo deren Tochter Jeanne geboren wurde. Gilberte starb am 02.05.1957 im Alter von 61 Jahren nach langer Krankheit und wurde im Friedhof Nordheim in Zürich bestattet.
 
Im Buch über Gilberte schreibt Georges Zaugg, der Präsident der Stiftung Klärly und Moritz Schmidli, das berühmte zweisprachige Mädchen könne als „weibliches Symbol für Frieden und nationale Einheit“ betrachtet werden und habe eine Brücke über den so genannten „Röstigraben“ (Grenze zwischen deutscher und französischer Schweiz) gebaut.
 
Sicher, auch ich fühle mich vom welschen Charme bei jeder Reise in die Westschweiz aufs Neue angesprochen. Denn dort gibt es viele Gilbertes und andere Bewohner, die uns deutschsprachige Röstifresser mit betonter Freundlichkeit begrüssen und betreuen. 
Anhang
„La Petite Gilberte de Courgenay“
Das berühmte Lied von Hanns In der Gand
 
By Pruntrut im Jura, da het en Wirt es Huus,
da luegt es Meitschi alli Stund, drymal zum Pfeischter uus;
und fragscht du denn d'Soldate, wer echt das Meitschi sei,
da lüpft es jedem Schwyzerbueb sis Herz und au sys Bei:
C'est la petite Gilberte, Gilbert' de Courgenay,
elle connaît trois cent mille soldats et tous les officiers.
 
C'est la petite Gilberte, Gilbert' de Courgenay,
on la connaît dans toute la Suisse et toute l'armée.
 
Syg eine en Trumpeter, syg eine en Tambour,
syg eine simple Solidat, sie het ne a der Schnur;
vom Korporal zum Lütenant bis ufe-n-a Major,
wer het die alli mitenand bim Zipfel und bim Ohr?
 
C'est la petite Gilberte …
 
Und fragsch: was Tüüfels het sie denn, isch die denn gar so schön?
Ae Bah, i ha schon in der Schwyz mängs tuusig Schönri gseh.
's weiss keine recht, wora-n-es lyt, am Aug oder am Schueh,
doch das isch wurscht, me werd verruckt und singt an einem zue:
 
C'est la petite Gilberte …
 
Und gäb me mir es Regimänt, ich seiti: O herrjeh!
O wär ich doch nur Lütnant und nur in Courgenay,
was nützet mier all Offizier und über tuusig Ma,
ich muess bim Herrgottsaprament ganz öppis anders ha:
 
C'est la petite Gilberte ...
 
Und wenn der Krieg denn dure-n-isch, und alles heizue gaht,
und wenn der Wirtin ihres Huus leer a de Strasse staht,
wer wüscht am Pfeister d'Aeugli us und lueget i d'Ajoie,
und truuret um die drymal hunderttuusig Maa?
 
C'est la petite Gilberte, Gilbert' de Courgenay,
elle cherche ses trois cent mille soldats et tous les officiers.
C'est la petite Gilberte, Gilbert' de Courgenay,
elle pleure maintenant pour toute la Suisse et toute l'armée.  
 
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