Textatelier
BLOG vom: 15.05.2009

Bättwil SO: Wie es zum Eintauchen in die Geschichte kam

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Ein kleiner Sonntagsausflug führte uns am 10.05.2009 ins Leimental, das im unteren Teil mit dem Birsigtal identisch ist und entlang der Höhenzüge namens Blauen und Bruderholz bis fast zur Stadt Basel reicht. Das weite, landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzte Tal umfasst Teile des Elsasses sowie der Kantone Baselland und Solothurn. An der Landesgrenze, direkt gegenüber von Leymen F, ist die kleine, rund 1200 Einwohner zählende Gemeinde Bättwil, die dem solothurnischen Bezirk Dorneck zugeordnet ist und einst über einen bedeutenden Rebbau verfügte. Vielleicht um an einem geweihten Ort für gute Erträge zu beten, wurde 1774 beschlossen, ein „Bäthysli“ (ein Bethäuschen) zu bauen: eine Kapelle.
 
Inzwischen ist Bättwil/Flüh am Juranordfuss zu einem beliebten Treffpunkt von Antiquitätenfreunden geworden, findet doch dort, auf dem Areal des Oberstufenzentrums Leimental, in der wärmeren Jahreszeit monatlich ein Antiquitäten-, Floh- und Bauernmarkt statt, zum Teil im Freien und zum Teil innerhalb der geräumigen Schulanlage. Ich machte gern einen Rundgang durch das reiche Angebot – auf der Suche nach vergriffenen Büchern. Zuerst fand ich eine etwa 1946 erschienene „Spezialkarte des Jura“, Blatt III), herausgegeben vom Schweizerischen Juraverein und erschienen im Geographischen Verlag Kümmerly & Frey, Bern – neuwertig, wohl noch kaum ausgebreitet – für 1 CHF. Selbstverständlich schlug ich ohne zu zögern zu – und vergass in meiner Freude gerade auch noch das Markten … Der Preis entsprach 1/3 dessen, was eine Portion Pommes Frites dort kostete bzw. 1/5 von einem halben Liter Warteck-Bier.
 
In einer Einkaufspause studierte ich beim Verzehr einer Grillbratwurst mit schräg eingeritztem Karreemuster auf der neben dem Teller ausgebreiteten altehrwürdigen Karte die Landschaft, in der wir uns befanden: Wir waren über Frick‒Rheinfelden‒Liestal‒Reinach BL‒Therwil‒Biel-Benken angereist und befanden uns nun also am Nordfuss des Witterswilerbergs (479 m ü. M.), der weiter südlich vom Blauen (836 m) deutlich überragt wird, welcher aber von Bättwil aus nicht zu sehen ist. Das Erlebnis, aus den Industriebrachen in die verhältnismässig heile Landschaft hinaus zu fahren, hatte uns beeindruckt. Und gleich westlich, bereits auf französischem bzw. oberelsässischem Boden, ist der Landskronberg, auf dem es Überreste der Burg Landskron gibt; diese Burg wurde wahrscheinlich 1813 in den napoleonischen Befreiungskriegen durch einen Brand zerstört. Bättwil liegt übrigens, wie auf der Webseite der Gemeinde (www.baettwil.ch) nachzulesen ist, an der Basler Tramlinie 10, die als längste und einzige Tramlinie Europas gilt, welche 2 Länder (CH und F) und 3 Kantone (BS, BL und SO) durchquert. Die Gemeinde rühmt sich für ihr Traditionsbewusstsein und ihre Offenheit. Zu Recht.
 
Irgendwie wurde ich auf dem Bättwiler Antiquitätenmärt immer tiefer in die Geschichte hineingezogen, zumal ich gleich im Eingangsbereich das in unbeschädigtes Leder gebundene Buch „Aus dem Leben Kaiser Wilhelms 18491873“ fand, das 1888 im Verlag Otto Janke in Berlin erschienen war. Selbstverständlich ist das Werk Wilhelm I. (1797‒1888) gewidmet. Das Buch fiel mir für 20 CHF zu – ein Sammlerstück, neuwertig, vollwertig.
 
Das Werk befasst sich vor allem mit jener Zeit, als der kommende Deutsche Kaiser mit dem gezwirbelten Schnurrbart und den nach unten, über die Kinnladen hinaus überhängenden Backenbärten noch König von Preussen war, ein sympathischer und trotz seines Erfolgs und seiner Machtfülle bescheidener Mensch mit einem ausgesprochenen psychologischen und politischen Geschick, der jeder Art von Scheinheiligkeit und Heuchelei abhold war. Er wollte mehr sein als scheinen, war aber dennoch eine imposante Persönlichkeit, zumal auch am schönen Schein keinerlei Mangel bestand. Er leistete unter anderem seinen Beitrag an die wechselhafte Geschichte des Elsass, indem er 1871 die Annexion von Elsass-Lothringen durchsetzte; es wurde zum deutschen Reichsland mit der Landeshauptstadt Strassburg im Elsass (1871‒1918).
 
Zu all dem geschichtsträchtigen Überfluss fand ich auch noch ein Werk über die „Stuckdekoration des Rokoko in der Schweiz“: „Andreas und Peter Anton Moosbrugger“ von Andreas F. A. Morel und 1973 herausgegeben von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte. Aus diesem Buch (9 CHF) kann ich nun endlich lernen, wie man die Hauptmotive und Rahmenelemente der Stuckdekorationen benennt. Ich weiss nun, was Spiegel (Profil und Ornamente an der Decke) vom Typus A, B und C sind und was eine beherrschende C-Rocaille ist – auf meine geduldigen Leser dürfte bei der Beschreibung kommender Feudal- und Kirchenbauten einiges hereinbrechen.
 
Ich möchte damit nur sagen, dass Floh- und Antiquitätenmärkte schon eine Funktion haben, indem sie dafür sorgen, dass das Richtige zum Richtigen kommt – ob dessen Bücherregale das alles schlucken, bleibe dahingestellt. Im Übrigen aber zeigen mir solche Märkte, was alles an Schönem, Kitschigem, Unnützem und nicht mehr erhältlichem Nützlichen von findigen Köpfen hergestellt worden war. Zum Beispiel ein gerahmter Spiegel mit der schwungvollen Inschrift „Nobody is perfect“, der gleichzeitig deprimiert und aufmuntert.
 
Beim Bratwurstverzehr sass uns ein freundlicher Herr mit sich lichtendem, aufgestelltem, luftig nach hinten gebogenem rotbraunem Haar und trotz tief hängender Lider wachen, aufmerksamen Augen gegenüber, der früher Wirt im nahen Flüh gewesen war und eine Zeitlang beim Zirkus Nock als Clown auftrat, wo er auch einige Zauberkunststücke aufführte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Charlie Rivel ist ihm nicht abzusprechen. Er sammelt nun Radio- oder Telefonapparate, die in Gebrauchsgegenstände wie Coca-Cola-Flaschen eingebaut sind. Er fand gerade einen schwarz-weissen Fussball mit etwa 10 cm Durchmesser, in dem ein Radio eingebaut ist – „für nur 7 Franken“, freute er sich. Ganz allgemein trifft man auf Flohmärkten zufriedene Menschen an, die ihr Glück in aller Bescheidenheit auskosten.
 
Wirtschaftskrisen-bedingt wird auf Floh- und Antiquitätenmärkten nur noch wenig gekauft – ich hätte zwar eher das Gegenteil erwartet; denn man kann dort oft für wenig Geld beste Sachen wie Leinenservietten mit Hohlsäumen, schöne Trinkgläser oder sogar Geld erwerben … eine 1-Räppler-Rolle mit 50 Münzen, ungeöffnet, wurde in Bättwil für 8 CHF angeboten. Vielleicht ist in dieser speziellen Wirtschaftssituation auch das Warenangebot erhöht worden. Was einst zum Alltag gehörte, wird irgendwann zur Antiquität, und weil vieles weggeschmissen und damit unwiederbringlich vernichtet wird, darf man dankbar dafür sein, dass es noch Flohmärkte als ultimative Rettungsaktionen gibt.
 
Wo mögen die 30 hölzernen Badewannen hingekommen sein, die es im nahen „Bad Flühen“ gab und von dem ich im Buch „Die Bezirke des Kantons Solothurn“ von Albin Fringeli und Gottlieb Loertscher (1973 gedruckt) gelesen habe? Das Bad soll über 15 Fremdenzimmer mit je 2 Holzwannen verfügt haben. In einer Zeitschrift „Vom Jura zum Schwarzwald“ aus dem Jahr 1889 stand dazu: „Die reichlich fliessende Therme hat eine ziemlich hohe Temperatur, ist eisenhaltig und enthält ausserdem Kalk und Chlorüre.“ Ich nehme an, dass es sich dabei um Kochsalz (Natriumchlorid) handelte; denn die Salzvorkommen (bei Schweizerhalle) sind ja nicht weit.
 
Das wurde übrigens (1889) geschrieben, kurz nachdem Wilhelm I. gerade gestorben war (1888). Aber nun lebt er in meiner Bibliothek weiter. Er hat 4 Attentate überstanden und braucht sich vor keinen weiteren Anschlägen mehr zu fürchten – es sei denn vor meinen allabendlich auftauchenden Leseattacken.
 
 
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