Textatelier
BLOG vom: 25.07.2008

Stei- und Steilimigletscher: Gletschermilch und Honig fliessen

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
An der kurvenreichen Sustenpassstrecke zwischen der Passhöhe (2224 m ü. M.) und dem Dörfchen Gadmen BE im Oberhasli (1204 m) laden zahlreiche Ausstellplätze zum Anhalten und zum Blick in die Bergwelt ein: zur Gruppe der Dammaberge und dem Gwächtenhorn im Süden und zu den Fünffingerstöck und den Wendenstöcken im Norden. Weil die weisse Farbe im Gebirge immer besonders ins Auge sticht, lenkt sich der Blick unwillkürlich nach Süden zum Steigleitscher (Steingletscher), der sich westlich an den Sustenspitz und die Sustenhörner anlehnt, und etwas weiter westlich streckt der Steilimigletscher (auch Steinlimigletscher geschrieben) seine Zunge ins Tal aus. Ich sah von dort oben, dass weiter passabwärts von einer Spitzkehre aus ein schmales Fahrsträsschen zu den Gletschern führt, und ich dachte angesichts dieses glaziologischen Schaustücks, es könne vielleicht nicht schaden, die gerade in der Sommersonne bei etwa 15 bis 18 °C dahinschmelzenden Gletscher mit einem Abschiedsbesuch zu beehren. Zumal das Oberhasli ein klassisches Gebiet für die Gletscherforschung ist. Es leitet die Abflüsse von 3 Gletschern der Aare zu: jene des Steigletschers, des Steilimigletschers und des weiter westlich gelegenen Triftgletschers.
 
Bei der erwähnten Spitzkehre auf der Berner Seite des Sustenpasses auf 1865 m haben sich verschiedene, touristischen Zwecken dienende Bauten angesammelt, darunter das Hotel „Steigletscher“ und auch eine mit Riesenlettern auf dem Dach beschriftete Alpkäserei mit Verkaufsladen. Als Angehörige eines Hirtenvolks sind wir Schweizer moralisch verpflichtet, täglich ein grösseres Stück Alpkäse zu verzehren, damit unsere Alpen und auch die Älpler nicht vergammeln; wir tun dies mit grosser Lust und Zuverlässigkeit und geraten darob in eine unheilbare Form von Käsesucht, die von Staates wegen eher gefördert als bekämpft wird, im Gegensatz zur Nikotinsucht. Noch gibt es keine käsefreien Gaststätten und schon gar keine ebensolchen öffentlichen Räume.
 
Wer vom Steigletscher-Hotel aus das geteerte Strässchen, das auch militärischen Zwecken dient, zu den Gletschern auf dem Gebiet der Gemeinde Gadmen BE befahren will, hat an einem Billettautomaten 5 CHF zu bezahlen –„Parkgebühr Steinalp“ steht auf dem Beleg, der vom Taxomex-Automaten ausgespuckt wird; unterschrieben hat die Kraftwerke Oberhasli AG, CH-3862-Innertkirchen. Ich nehme an, dass das mautpflichtige Strässchen ihr gehört.
 
Steigletscher und Steisee
Das Strässchen führt oberhalb des Steisees (1934 m) vorbei, der zwischen Moränen liegt. Der proglaziale See ist ab 1930 entstanden und heute gegen 400 m lang und etwa 300 m breit. Man kann ihn problemlos zu Fuss erreichen und sich dem unteren Ende des 4,3 km langen Steigletschers (8 km2 Oberfläche) nähern. Bei der Hauptzunge, die heutzutage in einiger Distanz zum See liegt, fliesst das meiste Wasser aus dem Gletschermund; es ist, als ob er sich angesichts der Klimaveränderungen übergeben müsste. Diese weiss-bläuliche Gletschermilch gewöhnt sich im See an seinen neuen Aggregatzustand und verwandelt sich in einen riesigen Spiegel für die umgebenden alpinen Schönheiten, bevor sie sich in einen Aarevorlauf verwandelt.
 
Zweifellos präsentiert sich diese Landschaft heute sanfter als etwa vor rund 200 Jahren. Der Vergleich wird durch die Lektüre der 1830 erschienenen „Naturhistorischen Alpenreise“ des Schweizer Forschers Franz Josef Hugi (1796‒1855) ermöglicht. Er schrieb: „Das Gewühl der aufgetriebenen Erd- und Felsmassen ist Schrecken und Furcht gebietend. Noch imponierender jedoch sind die zerrissenen Felsen, die schwarz aus dem herabsteigenden Firne entgegen sich stemmen. Links und rechts wallt er über schrecklichen Formen sich herab, seine empörte Masse im ebenen Eisfeld wieder auszugleichen … Kein Gletscher trägt, wie dieser, das fächerförmige Ausdehnen und Vorrücken zur Schau.“
 
Andere Zeiten, andere Sitten: Der Steingletscher hatte seine grösste Ausdehnung um 1820 und dann wieder zwischen 1850 und 1860. Damals begrub er sogar das alte Sustensträsschen, ein befahrbarer Saumweg, unter sich. Zurzeit ist gerade die Rückbildung im Gange; er wirkt zerfurcht, grau und abgemagert. Ein ausgeschilderter Gletscherpfad, der vom Hotel „Steingletscher“ aus mit braunen Wegweisern versehen ist, gibt Einblicke in die jüngere Geschichte dieser alpinen Landschaft. Die Felsen neben ungehobelten Steinkolossen, die sich selbstständig gemacht haben, sind poliert.
 
Der Steilimigletscher
Der Steigletscher ist im oberen Teil mit dem kleineren, knapp 1,5 km langen Steilimigletscher (0,65 km2) unter dem Giglistock verbunden; und dieses Paar wiederum hängt über die Chelenlücke mit dem Chelengletscher im Göschenertal zusammen, ein richtiges Puzzle aus Eisfeldern.
 
Dem kleinen Steilimigletscher wollte ich mich nun nähern. Die Strasse führt bergan, unter dem bergstürzlerischen Taleggligrat bzw. Schafberg vorbei, der von grossen Alpenrosenfeldern grün-rötlich gefärbt war. Ein Gletscherbach (der Steilimibach) trieb im Frühling des Lebens seine Kapriolen, bildete schäumende Fälle, umkreiste riesige Felsbrocken, ebenso einen jungen Felsschuttkegel, unter dem 1992 ein unterirdisches Munitionslager begraben worden sein soll, weil es explodiert war und einen Bergsturz auslöste; dieses Unglück forderte 9 Todesopfer. Alles in allem: eine urwüchsige Landschaft, ziemlich frisch entstanden.
 
Das Strässchen endet bei einem grossen Parkplatz vor der Zunge des Steilimigletschers auf 2093 m. Beidseitig neben dem Bach mit dem eiskalten Wasser kann man sich dem Gletschertor problemlos nähern; auch eine ältere Frau, die an 2 Krücken ging und mühsam einen Fuss vor den anderen setzte, tat dies. Über den abgeschliffenen Fels an den Seitenhängen zeichneten sich Wasseradern ab, als ob das harte Granitgestein an diesem Hochsommertag (16.07.2008) schwitzen würde.
 
Auf dem kiesigen und manchmal sandigen Boden blühten wunderschöne Arrangements aus dem Alpen-Leinkraut (Linaria alpina) mit blauvioletter Krone und orangefarbenem Gaumenfleck sowie den kleinen, blaugrünen, linealischen, dicken und quirlständigen Blättern; die Pflanze gehört zu den Braunwurzgewächsen. Ich erachtete diesen wunderbaren Schmuck zwischen den zertrümmerten, glimmer-schimmernden Seiten als eine besonders stolze Leistung der Natur – wie schafft man so etwas wenige Tage nach einem Schneefall auf einer annähernd humusfreien Fläche? In einer ausserordentlich kurzen Vegetationszeit müssen sich alle wesentlichen Lebensprozesse abwickeln. Sensationell. Auch das Dreigriffelige Hornkraut (Cerastium cerastodes) hatte sich hier oben eingefunden; es ist an den weissen, eingeschnittenen Kronblättern zu erkennen. Es liebt die Nähe von Eis und Schnee, weil es auf einen stets feuchten Boden angewiesen ist. Und natürlich war da auch noch die Ganzrandige Primel (Primula integrifolia), die ihre zart violetten Blüten mit den ebenfalls eingeschnittenen Kronlappen auf den saftig grünen-Blätter-Untergrund legt.
 
Der berühmte Schweizer Naturforscher Oswald Heer hat in seinem 1836 erschienenen Werk über die „Vegetationsverhältnisse des südöstlichen Theils des Cantons Glarus“ für solche Standorte den etwas gewagten Begriff Schneetälchenrasen geprägt: ebene oder wenig geneigte, muldenförmige Vertiefungen, die stets von Schneewasser getränkt sind. Genau an solchen Stellen treten Pflanzen auf, die sich massenhaft ausbreiten und ausserhalb der Schneetälchen nie vorkommen, eine Form von Gesellschaftstreue: Felsen-Mastkraut (Sagina saginoides), Zweiblättriges Sandkraut (Arenaria biflora), Gelbling (Sibbaldia procumbens), Niedriges Ruhrkraut (Gnaphalium supinum) und andere wie die erwähnten. Diese Naturwunder geschehen, obschon Fröste immer wieder für Wachstumsrückschläge sorgen. Dafür erwärmt sich der Boden bei Sonneneinstrahlung an seiner Oberfläche rasch. Dieser mineralstoffreiche Boden ist von eiskaltem Schmelzwasser durchtränkt und oft überrieselt; und selbst wenn er an der Oberfläche etwas austrocknen sollte, steigt Feuchtigkeit aus der Tiefe empor. Der spärliche Humus wurde hauptsächlich vom Schmelzwasser herangetragen.
 
Auf der beim Gletscherrückgang freigelegten, feinsandigen oder steinigen, breiten Fläche unter dem Steilimigletscher zeichnet sich ebenfalls eine Seeentstehung ab. Der untere Teil des Gletschers ist von Staubmassen, Steinbruchstücken, angewehten tierischen und pflanzlichen Überresten asphaltgrau bedeckt. Viele kleine, mittlere und grosse kantige Steine haben sich ins „ewige Eis“ eingeteuft, das im Moment gerade um seine Ewigkeit betrogen wird. Die Steine an diesem Steilhang können jederzeit ins Kollern geraten.
 
Doch ungeachtet solcher Gefahren wanderten viele Berggänger frohen Muts über den Gletscher, und unten wagten sich viele Besucher bis an den Gletschermund vor; ich darf mich hier nicht ausnehmen. Jedermann wird von diesem Naturgeschehen in den Bann gezogen, und jedermann möchte ganz genau sehen, was sich in solchen Urlandschaften abspielt. Das Werden und Vergehen gehören dazu, und so verflüchtigen sich eben gewisse Hemmungen und Zurückhaltungen.
 
Bei der Rückfahrt genoss ich noch einmal diese Gletscherlandschaft, die Alpenrosenfelder an den Talhängen, das stürmische und das stehende Wasser („Gletschermilch“). Etwas oberhalb des Restaurants Steigletscher hatte ein Imker aus dem Berner Seeland Bienenkästen aufgestellt, um Alpenrosenhonig zu gewinnen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass die Bienen diese Alpsömmerung in der reinen Bergluft bei frohem Summen geniessen und sich mit einem besonders fein blumig duftenden Honig bedanken und uns Käseessern zu etwas kulinarischer Abwechslung verhelfen.
 
Auch mich hat dieser kurze Aufenthalt in der Gebirgswelt beflügelt und mich veranlasst, den Bloglesern etwas Honig ums Maul oder um den Bart zu streichen – um sie zu einer eigenen alpinen Entdeckungsreise anzuspornen und sich im Hinblick auf die harte Winterszeit rechtzeitig mit ein paar Kilo Alpkäse einzudecken, komme was kommen mag.
 
Quellen
Bachmann, Robert C.: „Gletscher der Schweiz“, Silva-Verlag, Zürich 1983.
Jenny-Lips, Heinrich: „Vegetation der Schweizer Alpen“, Büchergilde Gutenberg, Zürich 1948.
 
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