Textatelier
BLOG vom: 01.01.2008

Gisliflue-Ausblick: Wo schon Ulrich Bräker fasziniert innehielt

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„In Biberstein trank ich noch ein Schöppchen und wandelte den Berg hinauf“, schrieb Ulrich Bräker (1735‒1798), den man „den armen Mann aus dem Toggenburg (Tockenburg)“ nannte und der regelmässig ein Tagebuch führte. Er war das älteste von 11 Kindern, lebte in Armut als Salpetersieder oder Hirte, leistete als Knecht schwere Bauernarbeit, war verschuldet und hatte einen Hang zur Schriftstellerei, für den seine Frau überhaupt kein Verständnis aufbringen konnte. Warum Bräker auf die Gisliflue kam, weiss ich nicht; ich werde dieser Sache noch nachgehen. Vielleicht kennt sich einer unserer Leser aus.
 
Da ich selber im Toggenburg aufgewachsen bin, ist mir Bräkers Name von Kindsbeinen an vertraut. Aber erst aus dem Buch „Der Aargau. Eine Landeskunde von Charles Tschopp“ (Verlag Sauerländer, Aarau 1961) habe ich entnehmen können, dass Bräker in Biberstein (Bezirk Aarau) eine Wanderung den „Berg“ hinauf unternommen hat. Mit dem Berg ist der langgezogene, meist bewaldete und ziemlich ebenmässig abfallende Südrücken der Gisliflue (Gislifluh) zwischen Biberstein und der östlichen Nachbargemeinde Auenstein (Bezirk Brugg) gemeint. Er gehört zu unserem eigenen nahen Auslauf hinter dem Haus – zu unserem Raum zum Herumlaufen vor dem Haus gehört die Aare in der Gestalt eines kanalartigen Stausees, der beim Kraftwerk Rupperswil‒Auenstein sein Ende findet.
 
Bräker würde heute staunen, wie viele Wohnhäuser sich am Fusse des Bergs in Biberstein angesammelt haben (kürzlich sind die Wiesen oberhalb der Alten Trotte mit solchen bestückt worden), und er würde sich über die dichte Besiedelung im trocken gelegten Aaretal und den hohen Kamin der Kehrichtverbrennungsanlage Buchs‒Aarau (KVA) wundern; allein der Blick zum fernen Alpenpanorama käme ihm bei klarer Luft vertraut vor.
 
Über seinen Eindruck, als er auf der Gisliflue angekommen war, schrieb Bräker: „Als ich auf die oberste Höhe kam, stund ich still, musste still stehen, denn ich wurde auf einmal von der herrlichsten Aussicht überrascht, die ich in meinem Leben noch nie gesehen. Die holde Sonne war eben im Untergehen begriffen. Vor mir lag schon eine unübersehbare Landfläche in Schatten und Abenddämmerung … Ich war voll wehmütiger Empfindungen, verlor mich ganz in dem unendlichen All, musste mich mit Gewalt von diesem Posten losreissen oder Gefahr laufen, von der Nacht überfallen zu werden.“
 
Praktisch haargenau dasselbe Erlebnis hatten Eva und ich, nachdem wir am Samstagnachmittag, 29.12.2007, nach Auenstein gefahren waren, um die Gisliflue – für uns zum erstenmal – von jener Seite aus anzugehen, also von der Ostseite des „Bergs“ aus. Nach Tagen des Nebels war die Sonne bis zu uns hinunter durchgebrochen. Und wir stellten fest, dass sich auch Auenstein bergaufwärts baulich stark entwickelt hat, viel intensiver noch als Biberstein im „Berg“-Gebiet. Hinter der Auensteiner Bauzone dehnen sich auf einem kleinen Hochplateau die Moosmatt und der Feldacher aus, die landwirtschaftlich genutzt werden. Dann folgt, bergwärts, ein vielleich 25 m breiter Waldstreifen, hinter dem ein tiefes Tal entstanden ist. Hier wurde Material wie Kalkmergel für die gefrässige Zementindustrie in Wildegg abgebaut. Das bei der Egg bis an die Grenze der Abbauzone vorgestossene Tal hat sich in den Fuss des Veltheimerbergs hineingefressen, ein gegen die Aare bei Holderbank abfallender Jurarücken mit dem Firsthölzle, der die Gisliflue wie eine Rampe bis zur Eggenmatt östlich fortsetzt, gegen die Aare abfallend.
 
Am Fusse des Veltheimerbergs, westlich der Abbaustelle, sind 2 stattliche Bauernsiedlungen auf dem leicht ansteigenden Gelände; die eine ist mit einer Holztafel als „Bergmatthof“ (IP-Betrieb mit Geflügelmast) gekennzeichnet. Von hier aus trat die Gisliflue als mächtiger, gleichförmiger, wallender Hügelrücken unter einer kräftigen Puderzucker- bzw. Raureifschicht (mundartlich auch Tüft genannt) ins Blickfeld. Den unteren Abschluss bildete ein bräunlicher Waldstreifen, der die Raureifdecke bereits abgegeben hatte. Und hinter einem grobschollig gepflügten Acker standen auf matt grün-gelben Wiesen einige Obstbaumskelette. Sie genossen die Winterruhe.
 
Das apere Landwirtschaftssträsschen wurde bald abrupt zu einem weissen, mit Raureifschnee bedeckten Waldweg, und wir verloren uns in dem hauptsächlich mit Buchen bestückten Wald, vorbei an einer kleinen, eingehagten Mergel-Abbaustelle, an deren braunen Wänden Eiszapfen hingen, und verschiedenen Hinterlassenschaften der Waldwirtschaft und Hochsitzen, wie sie hinterlistige Jäger aufstellen.
 
Der fast 2 km lange und schräg um etwa 250 m ansteigende Südrücken der Gisliflue (Kulminationspunkt: 772,2 m) ist von einem Netz aus schwach ansteigenden Waldstrassen belegt, das fast parallel zum Hang verläuft und gelegentlich durch etwas steilere, schräg nach oben beziehungsweise unten verlaufende Zwischenstücke verbunden ist. Uns wurde das Hin und Her im langgezogenen Zickzack bald einmal zu langweilig, und wir begaben uns zeitweise frontal den Hang hinauf, bis zur nächsten Querstrasse.
 
Fast oben auf der Krete angelangt, begegnete uns eine junge Dame aus Veltheim, die uns, neben einem 6-jährigen Freibergerpferd einherschreitend, entgegenkam. Die Vorderhufe des Pferds steckten in Gummischuhen mit gutem Profil, damit es weniger rutschte, und um die Fussgelenke waren Plastikbänder, weil das schöne Tier offenbar einen engen Gang hatte und sich mit den Hufen sonst verletzten würde. Das braune Fell war teilweise geschoren, weil der Hengst, wie uns die Tierfreundin sagte, sonst zu sehr schwitze – das Fell sei ganz verfilzt gewesen. Um das Tier im Abwärtsgehen zu schonen und wohl auch zur eigenen Sicherheit, ritt sie nicht.
 
Das Gehen im Raureifschnee war schon mühsam; doch die schönen Bilder, welche sich aus den Eiskristall-Arrangements ergaben, lohnten all den Aufwand. Und plötzlich waren wir zwischen dem Gatter (dem Juraübergang von Biberstein nach Thalheim) und dem Kopf der Gislifluh („Chaltenbrunnen“) auf der Krete angelangt – und jetzt brauche ich nur noch Ulrich Bräker abzuschreiben … Wir standen, wie er, ergriffen still: Im Vordergrund vereinzelte mit Raureif behangene Bäume, von der untergehenden Sonne angestrahlt, dahinter die bildfüllende, teilweise weiss eingefärbte Kulisse des Hombergs und des Staffelegggebiets und tief unten der obere Teil des Schenkenbergertals, durch einen zarten merkwürdig blaugrauen Nebelschleier weich gezeichnet. Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Bild noch schöner als jenes war, das sich vor Bräker aufgetan hatte. Und tatsächlich war auch jetzt die holde Sonne über dem Aaretal im Untergehen begriffen, beschleunigt durch aufziehende Wolken, die von einem leichten Wind aus dem Westen herangeschoben wurden und die vielerorts bald für Eisregen sorgen sollten. Das Feuerrot, die Schatten, die Abenddämmerung – ich hätte das liebend gern zusammen mit Ulrich Bräker genossen. Wenn das neue Jahr 2008 diesem Ausblick entsprechen sollte? Es würde eine wunderbar schöne Zeit werden.
 
16 Uhr war längst vorbei, und auch wir mussten uns von diesem Bild losreissen und an den Abstieg denken, denn noch war der Zeitenlauf nicht weit vom kürzesten Tag entfernt. Zuerst hatten wir eine leicht ansteigende Strecke zu bewältigen, und dann gings bergab. Für uns nicht schnell genug. Eva lieh mir einen ihrer Wanderstöcke, damit wir die Direttissima nehmen und uns in Steilphasen, vor allen an den Wegborden, sichernd abstützen konnten. Bald tauchten die Bauernhöfe wieder auf, und vorbei an grossen Holzscheiterbeigen erreichten wir das apere Gelände oberhalb von Auenstein wieder. Am Wegrand stand, leicht erhöht, eine Badewanne und darunter ein Gartenstuhl mit einem Brett auf den Lehnen. Wir liessen dieses Idyll links liegen. Die eisregnerische Nacht konnte hereinbrechen.
 
Erst daheim spürten wir in den Beinen, wie mühsam das Gehen im Raureif gewesen war. Das verhalf uns zur zusätzlichen Befriedigung, etwas geleistet zu haben.
 
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