Textatelier
BLOG vom: 02.07.2007

Tessin-Reise (6): Muggiotal – Der Reiz der Abgeschiedenheit

Autor: Walter Hess, Biberstein (Textatelier.com)
 
Im Osten von Mendrisio und im Norden von Chiasso befindet sich das südlichste Tal der Schweiz: das Muggiotal (Valle di Muggio). Dieses einsame Grenztal ist hinter dem Monte Generoso (siehe Blog „Tessin-Reise 5“) verborgen und geht beinahe im überquellenden Grün der Wälder unter. Die schäumende Breggia ist kaum noch zu sehen. Überall quellen Pflanzen hervor, aus Mauern und dem Belag von Dorfgässchen. Aber wo sind denn da die Leute geblieben? Die Dörfer machen allerdings keinen zerfallenden Eindruck.
 
Geopark in der Breggia-Schlucht
Wir kamen von Capolago (am Fuss des Monte Generoso und am Südende des Luganersees) her und fuhren vorerst über Castel San Pietro nach Morbio Superiore, wo ein Wegweiser ins Valle di Muggio weist; unser Navigationssystem war damit einverstanden. Vor dem Dorfeingang machten wir einen Halt und befanden uns unversehens an einem der Zugänge zum Geopark „Gole della Breggia“ (www.parcobreggia.ch). Etwas tiefer unten, in der Breggia-Schlucht (= Gole), können etwa 300 Millionen Jahre Erdgeschichte anhand von Gesteinsschichten verfolgt werden; Informationstafeln sind als Lehrmittel an Ort und Stelle vorhanden. Und so konnte ich meine kurz zuvor auf dem Monte Generoso gewonnenen Erkenntnisse z. B. über die Verkarstungen auffrischen (siehe Blog „Tessin-Reise 5“): Die leicht abwärts geneigten Konglomerate von Mendrisio mit ihren Hohlräumen können verkarstet oder zementiert sein, erfuhr ich. Neben Naturformen begegnet man im Umfeld des Canyons antiken Industrien, der Roten Kirche von 1345 (Castel San Pietro) und dem, was von einer mittelalterlichen Burg übrig geblieben ist. Etwa 3 Stunden sollte man sich für das alles schon einräumen. Wir mussten uns mit einem abgekürzten Verfahren zufriedengeben, denn es stand ja das obere Muggiotal auf meinem Programm, aus dem die Breggia heranfliesst – wir wollten also der Quelle entgegenreisen.
 
Morbio Superiore
Aber ein Auge voll vom Dorf Morbio Superiore wollten wir schon noch mitnehmen. Die rund 700 Einwohner zählende Gemeinde ist wegen der Nähe zu den verstädternden Gemeinden Chiasso und Mendrisio offenbar zu einem begehrten Wohnort geworden, unbehelligt von den grossen Nord-Süd-Nord-Verkehrsströmen und doch in deren Nähe. Viele Häuser sind frisch gestrichen, und von der Pfarrkirche San Giovanni Evangelista (1783 bis 1789 im klassizistischen Stil erbaut, Architekt: Simone Cantoni), die angeblich an der Stelle einer früheren Kirche aus dem 13. Jahrhundert steht, ist ein schöner Blick über das Dorf und die Umgebung möglich. Etwas unterhalb der Kirche ist das Nikolaus von der Flüe (Bruder Klaus) gewidmete Ossarium (Beinhaus) aus dem 18. Jahrhundert.
 
Caneggio
Die Strasse steigt um etwa 100 m Höhendifferenz an und mündet oben sogleich ins Dörfchen Caneggio, auf einer Sonnenterrasse gelegen, dem Beginn einer urtümlichen, wilden und doch nicht bedrohlich wirkenden Landschaft. Wie in jedem Tessiner Dorf dominiert auch hier eine Kirche an prominenter Höhenlage; diesmal handelt es sich um die spätbarocke Pfarrkirche Santa Maria Assunta aus dem 15. Jahrhundert, die den Akzent setzt. Doch seit Jahrzehnten ist hier der Fussballclub mit dem stolzen Namen FC Real Caneggio wahrscheinlich wichtiger als die Religionsattribute. Das Temperamentvoll-Hektische liegt den Tessinern eben im Blut, nicht allein beim Balltreten, und dementsprechend vorsichtig hat man beim Fahren auf den schmalen Strassen mit den oft engen Kurven zu sein. Ein langes Postauto, das in einer solchen Kurve unverhofft auftauchte und schwungvoll seinen Halbkreis beschrieb, drückte uns während der Fahrt förmlich an die Seitenmauer aus Natursteinen; da ging es um Millimeter. Beidseits des Fahrzeugs war ein Pfeifen wie in einem Windkanal zu hören – noch einmal Glück gehabt: kein Kratzer. Irgendein netter Schutzpatron schien mich zu begleiten.
 
In einer Strassenkurve bei Caneggio ist das ausgesprochen schattige Grotto Vanini, das für die zunehmende Klimaerwärmung bereits vorgesorgt zu haben scheint und Gegensteuer gegen den Sonnenkult gibt, wie er bei vielen Alpennordländern ausbricht, wenn sie Ticino hören. Wir mussten uns mit einem flüchtigen Blick unter die Pergola begnügen, wo einige Männer wahrscheinlich aus den blau und rot umrandeten Tassen ihren Merlot (Nostrano) tranken. Ich kenne solche Stimmungen aus meiner fast einjährigen Militärdienstzeit in Losone bei Locarno. Das ist Tessin.
 
Bruzella und das Maismehl
Unsere nächste Station war das terrassenartige Dörfchen Bruzella jenseits eines Seitentobels (auf der linken Talseite), dessen Pfarrkirche etappenweise zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert hingestellt worden ist. Und an der Hauptstrasse (Via cantonale) sitzt seit 1931 in einem gemauerten Halbrund in voller Leibesgrösse der in Bronze gegossene Politiker Emilio Bossi (1870–1920), ein konventionelles Werk von Apollonio Pessina. Meine bibliographischen Nachschlagewerke schweigen sich über Milesbo, wie Bossi kurz genannt wird, leider aus. Sonst aber sieht man in den Dörfchen fast keinen Menschen, was für den Standbild-Einsatz als Ersatzmassnahme spricht.
 
In Bruzella gibt es zudem ein ethnographisches Museo in Gestalt der berühmten Mühle („Il Mulino di Bruzella“) ganz unten an der Breggia, wie ich in einem Prospekt gelesen habe. Das wilde Wasser wird zur Bewegung von Mahlsteinen verwendet, zwischen welche die Maiskörner gelangen – so beginnt die Polenta. Das grobkörnige Maismehl kann man scheints in der Mühle kaufen. Wir haben das Vollkornmehl aus Bruzella später in der Panetteria Monte San Giorgio gefunden: Farina per polenta (mais indigeno, also einheimisches), 700 g für 6,50 CHF, und als dunkleres „Rosso del Ticino di granoturco vitreo integrale“ (Vollkorn) von einer alten, von Pro Spezie rara geretteten Sorte (500 g für 4 CHF). Das Mehl sollte möglichst frisch verwendet werden, weil es nur wenige Wochen haltbar ist; wir bewahren es im Kühlschrank auf.
 
Granoturco bedeutet übrigens Türkenmehl = Maisgriess, und vitreo steht für etwas Durchsichtiges. Aus Maismehl wird (manchmal mit Zusatz von etwas Weizenmehl) in der Schweiz und im Liechtenstein der Türkenribel zubereitet; oft sind auch Kartoffeln und Milch im Spiele, so etwa im Kanton Graubünden. Im nächsten Blog, welcher den Tessiner Grotti gewidmet sein wird, werde ich noch einmal auf die Tessiner Polenta eingehen, die ins Kapital Lyrik gehört: ein Gedicht.
 
Cabbio
Und nach Bruzella folgt, wiederum talaufwärts und durch ein Seitentobel getrennt, Cabbio, ein architektonisch geschlossenes Dorf, das nach Tessiner Art am Hang zu kleben scheint. Berühmt ist hier (neben der Pfarrkirche dell’Ascensione = Auferstehung) der 1844 von Luigi Fontane konstruierte Dorfbrunnen, der als neoklassizistische Anlage mit Steinplattendach ausgestaltet ist. Das schwere Dach wird vorn von 4 toskanischen Säulen getragen. Unter dem Dach sind ein zentrales Waschbecken, seitliche Sammelbecken und Tränken. Hier wird für einmal dem Wasser und nicht nur all den Heiligen die gebührende architektonisch-künstlerische Ehre zuteil.
 
Bei der Weiterfahrt hat man eine moderne Brücke über den aus dem Val Luasca heranfliessenden Seitenbach der Breggia zu überqueren, welche den Blick hinunter zur alten Steinbogenbrücke mit Stahlträger-Verlängerung freigibt, die zusammen mit einem Wohnhaus gerade von Bäumen verschlungen zu werden droht.
 
Höhepunkt Muggio
Der Höhepunkt der Reise in des Wortes beiderlei Bedeutung ist bald danach erreicht – das Tal ist nur etwa 15 km lang: Das Dorf Muggio, das zentrale Ereignis der flächenmässig grössten Gemeinde im ganzen Mendrisiotto, zu der auch verschiedene Weiler und einige Maiensässe (untere Alpweiden) an den Monte-Generoso-Hängen gehören. Muggio ist die höchstgelegene Gemeinde des Grenztals; das Gemeindegebiet reicht bis auf 1400 m hinauf. Und mag die dortige stattliche, einschiffige Pfarrkirche San Lorenzo im üppigen spätbarocken Stil noch so verziert sein und mögen noch so kunstvolle Rokokostuckaturen und illusionistische Malereien sowie der heilig gesprochene Laurentius in der Glorie den Innenraum der majestätischen Kirche zieren, mir selber hat es vor allem das Dörfchen als solches angetan. Das mag sehr wohl damit zusammenhängen, dass mein sich in vernünftigen Grenzen haltender Bedarf an sakraler Kunst allmählich gedeckt war. Doch das Leben der Menschen (die das alles schliesslich finanziert und geschaffen haben) ist für mich mindestens so interessant.
 
Auf der Webseite www.mendrisio-turismo.ch liest man dazu: „Muggio ist die Heimat zahlreicher Künstler. Unter ihnen finden sich berühmte Architekten des Neoklassizismus wie Luigi Fontana und Simone Cantoni. Letzterer hat viel in Como gearbeitet, wo noch etliche seiner Bauten, darunter auch die Herrschaftsvilla Olmo, bewundert werden können.“
 
In Anbetracht all der Kirchen kann man in Bezug auf das Muggiotal mit dem besten Willen nicht von einer gottverlassenen Gegend sprechen. Aber diese Abgeschiedenheit, in der viele Maurer, Gipser und Steinmetze – die Artigiani – lebten und vielleicht noch leben und wo Handwerk und Kunst sich verschmolzen haben und verschmelzen, bildet sich offensichtlich ein ästhetisches Empfinden heraus, das nicht art pour l’art ist, also nicht Kunst als Selbstzweck, sondern das die baulichen einfachen Lebensäusserungen zum Kunstwerk macht. Da findet sich das Gegenteil von Urbanität, von weltmännisch-städtischer Atmosphäre, sondern es ist die Anmut des kleinen, überschaubaren Dorfs, das auf dem kulturellen Erbe herangewachsen und zum Kunstwerk geworden ist. Die ausgesprochene Häuslichkeit ist zu erahnen, wenn man einen Blick in einen Innenhof werfen kann, wo Rechen, andere Werkzeuge, Karren, Räder, eine Sitzbank usw. ordentlich aufgereiht auf ihren Einsatz warten – oder einfach den Ruhestand geniessen, weil sie ihre Mission erfüllt haben. Das Traditionsbewusstsein und die Sparsamkeit verhindern, dass Nutzloses weggeworfen wird.
 
Nach meiner unmassgeblichen Beurteilung ist Muggio das ansprechendste, schönste Dorf im Mendrisiotto, weil es eine gewachsene Einheit ist. Die engen Gassen und noch engeren Seitengassen bis zu den und in die Hauseingänge sind samt und sonders mit kleinen, etwa hühnereigrossen runden Steinen belegt, die von der Breggia geformt und poliert worden sind und zwischen denen sich wie breite Geleise für die Karrenräder 2 Steinplattenbänder in die Länge ziehen. Noch nirgends habe ich einen solchen mit Konsequenz durchgezogenen Bodenbelag gefunden. Er ist ein alles verbindendes Element und erfasst selbst die Treppenstufen zwischen den Steinhäusern.
 
Eines der Häuser dient der 1945 geborenen zierlichen italienischen Schlagersängerin Rita Pavone gelegentlich als Domizil; 2005 veranstaltete sie ihre Abschiedstournee. Wahrscheinlich hat sie dabei noch einmal ihren Hit „Arrivederci Hans“ gesungen.
 
Sagno im Nachmittagsschlaf
Auch wir mussten wieder Abschied nehmen; für ein Wiedersehen konnte ich nicht garantieren, da ich eher der Typ des Entdeckers als des Repetitors bin und zudem auch nicht Hans heisse. Auf einem Hausdach beim Parkplatz am unteren Ende des Dorfausgangs von Muggio rollte gerade ein Kaminfeger seinen eisernen Besen zusammen; er schien uns Glück für weitere Exkursionen zu signalisieren – und tatsächlich verfolgten uns günstige Schicksalsfügungen auf Fahrten, Schritten und Tritten.
 
Auf der Rückfahrt zweigten wir vor Morbio Superiore nach Sagno am Hang des Monte Bispino ab, wo der berühmteste Tessiner Schriftsteller Francesco Chiesa (1871–1973) lebte; er schrieb z. B. „Märzenwetter“ und Erzählungen, aus denen seine Heimatverbundenheit sprechen. Doch ging es uns, ehrlich gesagt, nicht um Literatur, sondern aus naheliegenden Gründen um ein gutes Essen. Und dafür bot sich die Osteria Ul Furmighin (kleine Ameise), über die und deren Küche nach lokaler Tradition ich im Slow-Food-Führer „Osterie d’Italia 2006/07“, der marginal auch das Tessin berücksichtigt, nur Gutes gelesen hatte. Doch öffnete das Haus erst um 19 Uhr – wir hätten noch fast 2 Stunden warten müssen. Für diesen Fall hatte ich einen anderen Pfeil im Köcher:
 
Die Grotti an der Viala della Cantine in Mendrisio, von denen ich ebenfalls in Slow-Food-Kreisen gehört hatte. Sie verdienen ein eigenes Tagebuchblatt.
 
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