Textatelier
BLOG vom: 05.10.2006

Guarani: Musik aus einem ehemaligen Paradies

Autorin: Margrit Haller-Bernhard, Rothrist CH
 
Über 200 Jahre lang war die Musik der Guarani-Indianer in den Urwäldern Südamerikas verstummt. Jetzt erlebt sie eine Renaissance. Mit dieser Musik ist eine phantastische Geschichte verbunden – die 150-jährige, einmalige Blütezeit der von den Jesuiten Anfang des 17. Jahrhunderts gegründeten Guarani-Dörfern, den so genannten Reduktionen.
 
Kürzlich las ich in der Herbstausgabe des Magazins der Jesuitenmission Schweiz 2 Artikel über die ehemaligen und heutigen Guarani-Indianer Südamerikas. Diese Lektüre weckte in mir die Erinnerung an meine Besuche der Ausgrabungsstätte zweier ehemaliger Guarani-Dörfer in Misiones, Argentinien, aus dem 17. Jahrhundert. Die Strukturen dieser Siedlungen waren klar erkennbar, nicht jedoch das glückliche Leben, das sie einst erfüllt hatte. Die Kenner der Guarani-Reduktionen, wie sie vor allem in Paraguay, aber auch in Argentinien und Uruguay von 1609 bis 1767 existierten, sprechen von diesen Dörfern als von einem Paradies auf Erden, einem heiligen Experiment oder von einem Musikstaat.
 
Frieden, Wohlergehen und Musik
Es war in der Zeit der Kolonialherrschaft, in der ein Indio in den Augen der spanischen Eroberer ausser für Sklavendienste keine Daseinsberechtigung hatte. Damals reisten Jesuitenpater in das weite Gebiet zwischen den Strömen Paranà, Paraguay und Uruguay. Sie sahen in ihrem Wirken drei grosse Aufgaben: die Evangelisierung der Guarani, ihr Schutz vor der Versklavung durch die Kolonialmacht sowie die Anerkennung und Förderung ihrer hochstehenden Intelligenz, grossen Musikalität und ihrer differenzierten Guarani-Sprache. Noch heute ist neben Spanisch das Guarani offizielle Landessprache von Paraguay und wird von 90 % der dortigen Bevölkerung gesprochen.
 
Die Pater lernten als erstes die Guarani-Sprache und ihre verschiedenen Dialekte. Alsdann begannen sie, in freiwilliger Zusammenarbeit mit den Waldbewohnern den Urwald zu roden und Dörfer, Reduktionen genannt, zu bauen. In der Folge unterwiesen sie die Guarani in Ackerbau, Viehzucht und Metallverarbeitung. Die solide gebauten Häuser der Einheimischen gruppierten sich in den Dörfern um die Kirche herum. Unter der Anleitung der Pater kultivierten die Guarani in grossem Stil die wild wachsenden Mate-Sträucher zur Herstellung des Mate-Tees. Sie schafften es auch, eine Weizensorte zu züchten, die im tropischen Klima gedieh. Zudem waren sie äusserst erfolgreich in der Viehzucht und entwickelten ein vorbildliches soziales Gemeinwesen. Die landwirtschaftlichen Produkte aus den Reduktionen waren von der Aussenwelt so begehrt, dass sie 2000 km flussabwärts in Buenos Aires oder Montevideo erfolgreich verkauft werden konnten. Das daraus resultierte Geld gehörte der Gemeinschaft und diente ausschliesslich zum Ankauf von Geräten, die nicht selber hergestellt werden konnten. Persönlichen Geldbesitz gab es nicht, weder bei den Indios noch bei den Patern.
 
Um die 1700er-Jahre galten die Reduktionen als vorbildliche Gemeinschaften, wo Frieden, soziale Gerechtigkeit, geordneter Handel, Wohlergehen und – eine der erstaunlichsten Tatsachen – die ersten Musikorchester Südamerikas existierten. Die musikalischen Guarani spielten auf selber gebauten Instrumenten wie Geigen, Violoncellos, Flöten, Trompeten, Harfen, ja sogar Orgeln, abseits jeglicher Zivilisation mitten im Urwald Stücke von Vivaldi, Scarlatti, Händel und weitere, teils selbst komponierte Musik. Ebenso erstaunlich ist es, dass die Guarani in Schulen nicht nur das Lesen und Schreiben erlernten, sondern auch über alles Wissenswerte der Kultur und Zivilisation der damaligen Epoche unerrichtet wurden. Bereits 1707 wurde die erste Druckerei eingeführt, dies lange bevor in Buenos Aires und anderen südamerikanischen Städten mit Ausnahme von Lima die Gutenberg-Kunst Einzug hielt. Das erste Buch aus dieser Druckerei erschien nicht etwa in spanischer Sprache, sondern in Guarani, damit es alle lesen konnten. Es handelte sich nicht etwa um die Bibel, sondern um ein Werk der klassischen Philosophie mit dem Titel „Über das Zeitliche und über das Ewige“. Der Arbeitstag der Guarani zählte 6 Stunden. Die übrige Zeit stand zum Lernen und Musizieren zur Verfügung.
 
Spaniens König liess sie untergehen
Rund 150 Jahre, ganze 5 Generationen, währte dieses versteckte Paradies auf Erden. Dann wurden die Indios von den Mamelucken Sao Paulos bedrängt, die Sklaven und Gold bei ihnen suchten. Die Jesuiten und die Guarani wehrten sich heldenhaft gegen diese Feinde, wobei ihnen der Schutz der spanischen Krone verweigert wurde. So kam es l756 zum tragischen Guarani-Krieg, bei dem 2500 Eingeborene umkamen. Eine noch grössere Zahl wurde ermordet oder versklavt. 1767 erfolgte dann durch ein Dekret des spanischen Königs über Nacht der Abzug der Jesuiten. Das war das Ende des „Heiligen Experimentes“. Die Guarani mussten fliehen, der Urwald überwucherte die Dörfer, und die Musik geriet in Vergessenheit.
 
Neue-alte Klänge aus dem Urwald
Über 200 Jahre lang blieb die Musik der Guarani-Reduktionen verstummt. Bis 1972 bei Restaurierungsarbeiten auf einem Dachboden einer noch existierenden Kirche aus dem 18. Jahrhundert ganze Bündel von Noten aus der Zeit der Reduktionen zum Vorschein kamen. Für den Dirigenten, Komponisten und Musikforscher aus Paraguay, Luis Szaran, bedeutete dies der Aufbruch zu einer faszinierenden Forschungsreise in die Welt der ehemaligen Guarani-Musik, in der sich europäische Barockmusik mit indianischer Musikalität verbindet. Es ist ein Anliegen des Maestros Szaran, diese musikalischen Schätze der heutigen Jugend in den Dörfern Paraguays zu vermitteln: „Wenn mich etwas tief beeindruckt hat, dann war es das grosse Erbe der Jesuiten. Vor allem die Entwicklung der musikalischen Intelligenz der Guarani. Nicht nur die alten Noten haben überlebt, auch die tiefe Musikalität der Menschen.“
Inzwischen haben die Reduktionen auch weitere Schätze freigegeben. Dörfer wurden ausgegraben, Kirchen von Grund auf erneuert und viele Statuen aus dem Erbe der Jesuitenzeit vor Kunstraub geschützt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Gegenwärtig gehören 12 der alten Reduktionsorte zum Weltkulturerbe. Was nie zurückgeholt werden kann, sind der Friede, die hohe soziale Gerechtigkeit, der geordnete Handel und das Wohlergehen der damals mehrere 100 000 Einwohner zählenden Siedlungen.
 
Bedrohung durch moderne Feinde
Heute sind die Guarani in Paraguay zu einer verschwindenden Minderheit zusammengeschmolzen. Sie leben in äusserster Armut, denn ihr einstiger Lebensraum, der Urwald, wird immer mehr von den sich rasant ausbreitenden Plantagen der internationalen Soja-Unternehmen eingeengt. Dadurch droht ihr kultureller Reichtum und ihr Naturverständnis verloren zu gehen. Sie leben in armseligen Behausungen ohne Trinkwasser, Elektrizität, Gesundheitsvorsorge und mit einer nur zweijährigen Schulbildung. Ein halbes Jahr können sie sich von den Produkten ihrer Äckerchen.ernähren, die übrige Zeit müssen sie als schlecht bezahlte Taglöhner irgendwo Arbeit suchen.
 
Seit Frühling 2006 nimmt sich die von den Jesuiten geleitete Organisation „Centro de Estudios Paraguayos Antonio Guasch“ 10 Guarani-Dörfern an und vermittelt dort landwirtschaftliche Schulung, damit die kleinen Parzellen von den Waldbewohnern mit grösserer Effizienz nachhaltig genutzt werden können. Dies ist für das Überleben der Indios wichtig, weil seit den 1990er-Jahren auch der Fischfang in den Waldbächen durch die toxischen Abwässer der Sojaplantagen ausfällt. Die neuen Feinde der Waldindianer sind also nicht mehr die einstigen Kolonialherren, sondern die aggressiven Expansionsbestrebungen der grossen Plantagenbesitzer, der Raubbau am Regenwald und nicht zuletzt die Gleichgültigkeit von Politik und Gesellschaft. Umso erfreulicher ist es, dass die Musik der einstigen Reduktionen derzeit eine Wiedergeburt erlebt und in 2 Lifekonzerten im November 2006 auch in der Schweiz zu hören sein wird.
 
Nicht besser als den Guarani in Paraguay ergeht es denjenigen in Misiones, Argentinien. Die kleine Gruppe wohnt in 2 Siedlungen auf engem Raum. Hier nimmt sich eine Handvoll junger Einwanderer, auch aus der Schweiz, dieser Waldbewohner an. In einer eigens für sie erbauten Schule werden sie unterrichtet, und die Ärztin Mariana Mumphey sowie der Tierarzt Alberto Huber kümmern sich um ihre gesundheitlichen Probleme.
 
Übrigens erzählte mir Mariana, ihr Urgrossvater habe aus dem Fenster seines Hauses jeweils als Schiessübung auf die Indianer gezielt. Mit ihrem Engagement möchte sie versuchen, diesen Frevel ein wenig zu sühnen. Als junge Medizinerin lebte sie einige Monate in einer Guarani-Gemeinschaft und wurde dabei vom Häuptling in die traditionelle Pflanzenheilkunde eingeführt. Zusammen mit weiteren Guarani-Kennern ist auch Mariana zutiefst vom Naturverständnis, von der Moral und dem Gemeinschaftssinn dieser kleingewachsenen Waldmenschen beeindruckt.
 
Konzerte mit barocker Jesuitenmusik aus den Urwäldern Südamerikas werden von der Academica Ars Canendi und dem Domenico Zipoli Ensemble aus Prato, Italien, sowie 3 jugendlichen Musikern aus den ehemaligen Reduktionsdörfern derzeit in europäischen Ländern gespielt. 
 
Hinweis auf weitere Blogs von Margrit Haller-Bernhard
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst