Textatelier
BLOG vom: 11.07.2006

Frage an die werte Wertegemeinschaft: Was darf Indien?

Autor: Walter Hess
 
Darf Indien, was Nordkorea verboten ist? Zum Beispiel atomwaffenfähige Interkontinentalraketen testen. Sehr wohl. Es kommt darauf an, auf welcher vom Schurkenstaat USA gezogenen Achse sich ein Land gerade befindet. Und Indien als aufkeimende Wirtschaftsmacht und wichtiger Handelspartner der USA liegt momentan auf der Achse der Guten. Laut der Medienagentur DPA stellte der Verteidigungsexperte und Indien-Korrespondent des Fachmagazins „Jane’s Defence Weekly“, Rahul Bedi, fest, die Tests seien nicht vergleichbar mit den nordkoreanischen. Indien habe bewiesen, dass es eine „verantwortungsvolle Atommacht“ sei. „Jane’s Defence Weekly“ ist das britische Rüstungsfachblatt, sozusagen das Sprachrohr der westlichen Rüstungsindustrie, die ja auch gelebt haben muss, und der US-Kriegsmarionette Nato mit dem Spezialgebiet des Herbeibombens von Frieden. Jedenfalls lässt sich das aus den Kommentaren leicht schliessen. Medien, die das Jane's Fachblatt zitieren, sollten das auch bekannt geben. Aber dann wäre es mit dem Anklang an Jane Russell, dem Busenstar aus den 1940er-Jahren und an die damit verbundene Büstenhalter-Werbekampagne vorbei.
 
Wenn es darum geht, abendländische Aufrüstungseuphorien und Kriegsgelüste zu motivieren, zitiert man mit Vorliebe dieses britische Verteidigungsblatt (to defence = verteidigen, ein defender ist ein Verteidiger). Auf dieser Grundlage redet man sich heraus, mit „Experten“ im Rücken, welche die US-Kriegspolitik und die damit verbundene Rüstungsindustrie hervorragend finden. Und damit erübrigt sich dann eine Diskussion. Aus dieser Betrachtungsweise sind die USA mit ihren mehreren Tausend Atombomben eine ebenfalls verantwortungsvolle Atommacht (siehe Hiroshima und Nagasaki), die nur aus reinem Spass am Atomwaffenbesitz solche Riesenarsenale aufbauen und nicht im Entferntesten Böses im Schilde führen, nicht einmal mit der neuen, niedlichen Mini-Bomben-Generation. Und solch verantwortungsbewussten, grundehrlichen Mächten muss man ja wohl ein harmloses Steckenpferd zugestehen, damit sie neue Kräfte für den Alltag sammeln können. Das Bombardieren ist wahrhaftig alles andere als ihre Sache, wirklich nicht. Es sei denn, es gehe wegen der Taliban oder Saddam Hussein ausnahmsweise nicht anders. Wenn dabei Hochzeitsgesellschaften, alte Frauen und Männlein, Kinder, Schulen und Spitäler getroffen werden, sind das Kollateralschäden. Schliesslich verrutscht das Messer manchmal auch bim Zerkleinern von Zwiebeln für die Älpler-Makkaroni. Und selbstverständlich führen auch die Atommächte Indien, Pakistan und Israel nichts Böses im Schilde; es fehlt ihnen sogar die Lust, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen. Friedensengel sind vergleichsweise Kriegsgurgeln dagegen.
 
Und so blieb es Indien denn völlig unbenommen, mitten in der angespannten weltpolitischen Lage nach den nordkoreanischen Raketentests (siehe Blog vom 10. Juli 2006) eine atomwaffenfähige Mittelstreckenrakete zu erproben. „Agni III“ (in der Hindi-Sprache heisst das „Feuer“) kann bis zu 3500 Kilometer fliegen und damit erstmals auch strategische Ziele im Norden Chinas erreichen; auch Peking und Schanghai liegen im Aktionsradius. Aber das ist Theorie. Der „Agni III“-Jungfernflug mit Start auf der Insel Wheeler, 180 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt des Bundesstaates Orissa, Bhubaneswar, war ein reines Sonntagsausfährtchen − sie wurde am Sonntag um 11.05 Uhr Ortszeit auf einer kleinen Insel vor der ostindischen Küste abgefeuert und landete später plangemäss im offenen Meer vor der indischen Inselgruppe der Nikobaren. Vielleicht ist der eine oder andere Fisch, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort im Unterwasserschwimmen geübt hat, getroffen worden. Aber das wars dann schon. Oder vielleicht war da gar nichts: Hinterher hat Indien den Test für gescheitert erklärt. Damit war dann die Welt vollkommen in Ordnung.
 
Erwartungsgemäss war nach dem Test, der zum Beeindrucken Chinas diente, kein Feuer im Dach (Medienmotto: herunterspielen). Die Beziehungen China−Indien haben sich in den letzten Jahren entspannt, so dass nun wieder etwas mehr Anspannung durchaus drinliegt, damit die Spannung erhalten bleibt.
 
In Süd- und Ostasien verfügen Indien, Pakistan, China und Nordkorea über atomwaffenfähige Raketen. Ausschliesslich jene von Nordkorea sind verboten (Medienmotto: heraufspielen), weil sich dieses Land nicht den USA unterordnet und folgerichtig auf der Achse der Bösen landete und damit auch keine Massnahmen zur Selbstverteidigung vorkehren darf.
 
Auf diese Weise lassen sich die internationalen Spannungen elegant erhöhen, und am Schluss hat dann die Achse der guten Atommächte den Beweis erbracht, dass Atombomben halt doch nötig sind. Die eingebetteten Medien transportieren diese Erkenntnis behutsam und einprägsam, und ob sie im Fussballrummel noch wahrgenommen wird, steht auf einem anderen Blatt.
 
Dennoch gibt es überall vollkommen uneinsichtige, um nicht zu sagen geistig unterbemittelte Menschen, welche die von der Wertegemeinschaft verströmte Logik einfach nicht begreifen wollen und können. Ich zähle mich zu diesen.
 
28.10.2005: „Apartheid-Aufarbeitung: Wo Rassismus sein darf und wo nicht“
24.10.2005: „Material zum Barrieren-Bau gegen US-Kultur-Sondermüll“
10.10.2005: „Bananenrepubliken, Gen-Diktaturen und WTO-Sklaven“
04.10.2005: „Die entfesselte Welt: Ordnungsrahmen fehlen überall“
01.10.2005: „,Crash. Boom. Bang’: Kein Mittel gegen Hollywood-Schund“
26.09.2005: „D und CH: Wahlen, Abstimmungen und Kosmopolitismus“
22.09.2005: „Röpke: Das masslos überdehnte ‚Mass des Menschlichen’“
16.09.2005: „,Crash. Boom. Bang’: Hollywoods Kriegsverherrlichung wirkt“
12.09.2005: „Belebende Töne in Dur: Regionalorganisation dreiklang.ch“
11.09.2005: „Reflexionen über religiöse Dimensionen der US-Kriegswut“
09.09.2005: „Henry David Thoreau und die Pflicht zur Ungehorsamkeit“
07.09.2005: „Die USA schreiben verschlungene Schützenpanzerwege vor“
06.09.2005: „Die tödliche Gefahr der zentralistischen Globalisierung“
04.09.2005: „Das Sprachkopieren als geistige Unterwerfung unter die USA"
03.09.2005: „New Orleans: Katastrophenbewältigung mit Schiessprügeln“
20.08.2005: „Alle Achtung beiseite – bei den fetten Manager-Katzen“
15.08.2005: „US-Kriege der Zukunft: Täuschen, tarnen, effizient töten“
13.08.2005: „Die Glokalisierung als Reaktion auf die Globalisierung“
06.08.2005: „Und sie sagten kein Wort ...: Beispiel Niger (Nigerien)“
25.07.2005: „,Shoot to kill' – oder: Auf dem langen Weg zur Einsicht“
24.07.2005: „Warum nicht einmal die Terrorismus-Ursachen ergründen?“
21.07.2005: „Übel aus dem Osten, aus dem Westen nichts Neues“
11.07.2005: „Wie man den Kindern das Töten und Schlagen beibringt“
07.07.2005: „Bomben in London City: Die Olympiade der Gewalt“
07.07.2005: „Wieder Terrorismus in dieser besten aller Welten“
04.07.2005: „Bush-Rede: Ein Kommafehler im Dienste der Ehrlichkeit“
21.06.2005: „SP und Gewerkschaften verschaukeln ihre Genossen“
12.06.2005: „Das Lügen wie gedruckt hat eine sehr lange Tradition“
06.05.2005: „Globalisierung, OECD, G10 und die Beruhiger vom Dienst“
18.04.2005: „Die McDonaldisierung frisst Kulturen und Naturwerte auf“
02.04.2005: „Der Neoliberalismus, ausrangierte Alte und der Papst“
04.03.2005: „Hunter S. Thompson und die fiktive Wirklichkeit“
01.02.2005: „WEF 2005: Schminke über Globalisierungspleiten“
31.12.2004: „Bilanz 2004: Überhaupt nichts im Griff“
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst