Das Märchen vom Niemandsland
Es war einmal ein Land, in dem wohnten nur Buschmänner und Hottentotten, und die waren in den Augen des weissen Mannes, der viele hundert Jahre später in dieses Land kam, niemand; denn die Buschmänner und Hottentotten wussten nicht einmal, wie man Gold und Diamanten schürft. Deshalb sagte der weisse Mann (und auch die weisse Frau), dieses schöne Land im Süden Afrikas gehöre niemandem. Es war so wie im Mittelalter, als die fremden Ritter sagten, die Bauern seien niemand, deshalb gehöre das Land, in dem die Bauern seit undenklichen Zeiten ansässig waren, niemandem und sie, die Ritter, seien seine rechtmässigen Herrscher.
In dem Land, das heute Südafrika heisst, stritten sich zunächst noch 2 Arten der frommen weissen Rasse um die Vorherrschaft: die Holländer und die Engländer. Die Letzteren siegten, wohl weil sie die besseren Waffen hatten, und wurden die endgültigen Herren des Landes. Von den ursprünglichen Bewohnern, den Buschmännern und den Hottentotten, war überhaupt nicht mehr die Rede - sie waren wirklich niemand. Vielleicht sind sie inzwischen ausgestorben. Sie wussten ja nicht einmal, wie man ein Land wirtschaftlich entwickelt – sie kannten nur die Natur. So nahm nun der weisse Mann (und auch die weisse Frau) die Entwicklung der Wirtschaft mit christlicher Tüchtigkeit an die Hand, und jeden Tag wurde das Wirtschaftunser gebetet.
Der weisse Mann beschäftigte sich aber in diesem Land, das er Südafrika nannte, nicht nur mit der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch mit der Jagd, und zwar zu seinem Vergnügen, während die Buschmänner und Hottentotten früher nur zum Überleben gejagt und damit die Tierbestände erhalten hatten. Aber diese Niemande wurden nicht nach ihrer Meinung gefragt und waren auch kaum noch vorhanden. Mit der Zeit musste der weisse Mann Schutzzonen für gewisse wild lebende Tiere einrichten, da sie sonst durch die Jagd ausgerottet worden wären. Diese Zonen nannte der weisse Mann Nationalparks, und er war sehr stolz auf sie.
Mit der Zeit, als dem weissen Mann das Schuften zuviel wurde, holte er Arbeitskräfte aus anderen Gegenden Afrikas in das Land, das er als das seine bezeichnete. Sie sollten ihm helfen bei der wirtschaftlichen Entwicklung, beim Schürfen von Gold und Diamanten. Es war so wie im 20. und 21. Jahrhundert in der Schweiz, als die tüchtigen Eidgenossen aus dem Ausland Arbeiter in ihr Land holten, damit sie ihnen bei der noch wirtschaftlicheren Entwicklung ihrer bereits entwickelten Wirtschaft helfen sollten. Mit der Zeit rebellierten die schwarzen Arbeitskräfte, die in der Überzahl waren, gegen den weissen Mann, und nach vielen Jahren der Knechtschaft konnten sie die Macht im Land übernehmen. Die Buschmänner und Hottentotten hingegen, von denen noch einige wenige vorhanden waren, gingen leer aus.
So geschieht an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten immer wieder dasselbe auf der Welt: Die Mächtigen brauchen Niemande und Niemandsländer, um ihre Macht ausüben zu können. Vielleicht werden eines Tages die Marsianer von ihrem Planeten auf die Erde auswandern und uns alle als Niemande bezeichnen, so dass die ganze Erde ein Niemandsland für die neuen Herrscher sein wird. Diese werden wohl den Kopf schütteln über die Nationalparks, die Diamantengruben und die entwickelte Wirtschaft. Aber dann hätten wir Niemande ohnehin nichts mehr zu sagen.
Lislott Pfaff
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