Schilda in globalisierter Neuauflage
Sie erinnern sich: Im 43. Kapitel des weltberühmten "Schildbürgerbuchs von 1508"[1] ist die fürchterliche Mäuseplage in Schilda beschrieben. Offenbar war dort, wie so manches andere auch, selbst das ökologische Gleichgewicht gestört. Katzen kannte man nicht.
Aber eines Tages begab es sich glücklicherweise, dass ein Wandersmann durchs Dorf zog und eine Katze auf dem Arm trug. Ein Wirt fragte, was denn das für ein Tier sei. Der Wanderer: "Ein Maushund." Er liess dieses Tier demonstrativ frei laufen, und es erlegte der zahm gewordenen Mäuse gar viel, wie es heisst. Die Schildbürger kauften den Maushund für 100 Gulden. Die Katze wurde auf die alte Burg getragen, worin das Getreide gelagert war, "da auch die meisten Mäuse gewesen". Der Wanderer zog mit dem vielen Geld inzwischen eilig von dannen.
Doch die Bauern hatten zu fragen vergessen, was denn der Maushund esse und sandten dem Wandersmann in Eile einen der ihren nach. Der Wanderer sagte: "Was ihm beut"[2], was wohl etwa hiess: "Was sich ihm bietet". Doch der Bauer hatte verstanden "Vieh und Leut" und "kehrte derohalben in grossem Unmuth wieder heim". Die gnädigen Herren von Schilda aber, die von den vermeintlichen Ernährungsgewohnheiten des Maushundes erfahren hatten, kannten keine Gnade: Sie beschlossen, diesen schleunigst zu töten, um nicht nach dem Vieh noch selber zu Opfern zu werden, eine präventive Massnahme.
Keiner aber wollte die Bestie angreifen; also wurde die Burg angezündet. Die Katze floh in ein anderes Haus, während die Burg bis auf die Grundmauern niederbrannte. Dieses Zufluchts-Haus wurde nun mit öffentlichen Mitteln gekauft und ebenfalls niedergebrannt. Als einer der mutigen Schildbürger mit einem langen Spiess nach der Katze stechen wollte, lief diese daran herab, so dass die Bauern in Panik gerieten und mit Weib und Kind, wie es heisst, die Flucht in einen Wald ergriffen. Das Dorf konnte ungestört niederbrennen; aber die Katze kam davon. Die Erzählung schliesst im Diffusen: "Damalen verbrannte auch ihre ganze Kanzlei: also dass von ihren Geschichten nichts Ordentliches mehr verzeichnet zu finden (ist)".
Hier könnte man heutzutage einfach noch einen Hinweis dergestalt anfügen, dass auf der weltpolitischen Bühne die Denkweise, wie sie in Schilda verbreitet war, noch immer die dominante Rolle spiele und jede Leserin und jeder Leser sich bitte darauf den eigenen Reim machen wolle. Nachfolgend einige Einstiegshilfen:
Ganz spontan kam mir bei diesem Reimen, bei dem einem das Spassen vergeht, Vietnam in den Sinn, wo von den Amerikanern mit chemischen Giften (Agent orange) ganze Landschaften "abgebrannt" wurden, damit man die Menschen, die zu Feinden erklärt worden waren, besser fangen und töten konnte. Im Allgemeinen sind die Schildspiesse zunehmend durch Bomben mit grösserer Reichweite ersetzt worden, mit denen man aus Distanz ganze Städte, Dörfer, Hochzeitsgesellschaften, Spitäler, Lager von Hilfsorganisationen usf. vernichten kann. Aber die Katze, die eigentlich gefangen werden soll, entkommt hier immer wieder.
Das Feuer breitet sich ständig weiter aus. Und dann hecken die verängstigten modernen Schildbürger, die an den Kommandopulten dieser modernen Welt sitzen und die alles möglichst gut machen und vor allem ihre eigene Haut retten wollen, neue simple und einleuchtende Lösungen aus. Es ist immer noch haargenau der Schilda-Stil mit ähnlichen Kollateralschäden als Folge eines sträflich verkürzten Denkens, das ins weltpolitische Schilda und auch in dessen Wirtschaftszone Einzug gehalten hat dorthin, wo Traditionsunternehmen in Serie zusammenbrechen. Sogar die sprachlichen Missverständnisse in dieser neoanalphabetischen Zeit, zu denen auch der Umgang mit undefinierten Anglizismen gehört, führen oft zu katastrophalen Verirrungen und Fehlentscheiden, genau wie oben.
Man könnte beliebig weiterreimen, bis hin zum "Plan Colombia", der vor wenigen Jahren von den USA in geheimer Aktion mit der kolumbianschen Regierung ausgeheckt worden war: Er sah die Vernichtung der Kokain-Plantagen mit genveränderten Pilzen bei unabsehbaren Folgen vor. Es wäre eine Art von Vietnamisierung von Kolumbien entstanden, hätte nicht wenigstens auf kolumbianischer Seite doch noch die Vernunft Oberhand gewonnen.
Vernichtungsstrategien, weil man eine zum Bösewicht erklärte Katze aus der Welt schaffen möchte, gibt es auch in der Natur und im Krankheitsgewerbe. Es ist immer alles wohldurchdacht. Nur vergisst man in der Regel die Konsequenzen: Man zieht mit chemischen Kampfstoffen gegen wild wachsende Heilkräutlein ins Feld und vergiftet das Wasser und die Lebensmittel, macht das ökologische Netzwerk kaputt. Man veranstaltet Treibjagden auf Bakterien und vergisst, die Abwehrkräfte und damit die Robustheit der Individuen zu stärken. Das sterile Umfeld bewirkt das Gegenteil.
Es ist alles so logisch und klar, folgerichtig und nachvollziehbar. Genau wie in Schilda.
Reimen Sie bitte weiter! Das "Schildbürgerbuch des 21. Jahrhunderts" wird sehr, sehr umfangreich werden.
Walter Hess
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[1] Beim Autor des berühmten "Schildbürgerbuches von 1598" handelt es sich um Johann Friedrich von Schönberg, bekannt auch als Conradus Agyrta von Bellemont (ein wortspielerisches Pseudonym). Er wurde 1543 in Sitzenroda geboren, einer Nachbargemeinde des sächsischen Schildau. Der Originaltitel des Buches: "Die Schiltbürger. Wunderselzame Abendtheuerliche / vnerhörte / vnd bißher vnbeschriebene Geschichten vnd Thaten der obgemelten Schiltbürger in Misnopotamia hinder Vtopia gelegen".
[2] Das Wort "beut" ist ein dichterischer Ausdruck für bietet. Es kommt zum Beispiel in Eduard Mörikes Gedicht "Die schlimme Greth und der Königssohn" vor: "Sie lacht ihn an wie Maienschein, / Da sie ihm den Becher beut, / Sie legt den Arm um seinen Hals; / Vergessen war all sein Leid."
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