Palaver unterm Palaverbaum
Das Wort Palaver verwenden wir, um ein sinn- und hirnloses Gerede zu bezeichnen; wer palavert, ist nach schweizerischer Mundart ein Laferi. Das Palaver (schweizerisch: Gelafer, Gelaffer) hat seinen Ursprung offenbar in der portugiesischen Sprache, wo es ab dem 18. Jahrhundert für eine Unterhandlung zwischen den weissen Kolonisatoren und der unterdrückten und ausgebeuteten einheimischen Bevölkerung stand; wer zu jener Zeit das Sagen hatte, ist klar. Es war die weisse Rasse, die ihre Macht dazu benützt hat und noch immer dazu benützt, andere zu unterdrücken.
Weil bei einem Palaver nach heutigem Verständnis lange hin- und hergeredet wird, ist seine abwertende Bedeutung gerechtfertigt. Die meisten Radio- und Fernsehdiskussionen gehören dazu. Sie enden ohne Ergebnis (Konsens) und hören auf die Minute genau auf, einfach weil die zur Verfügung gestellte Zeit abgelaufen ist. Parlamentsdiskussionen enden mit einem Mehrheitsbeschluss. Bei Diskussionen halten hier wie dort alle an ihren vorgefassten Meinungen fest; es kommt praktisch nie vor, dass jemand aufgrund von Argumenten, die für ihn neu sind, seine Ansicht auch nur modifiziert, geschweige denn ändert.
Die alte Tradition des Palavers ist noch bei vielen Dorfgemeinschaften in Afrika und Neuguinea üblich, die den überlieferten Lebensstil beibehalten haben. Wo immer Probleme (Familienzwiste, nachbarrechtliche Fragen, Streite um Sachwerte oder Personen, juristische Knacknüsse irgendwelcher Art usf.) zu lösen sind, setzen sich die Beteiligten unter dem Vorsitz der Dorfältesten unter den Palaverbaum (l' arbre à palavre). Häufig ist das ein jahrhundertealter, riesiger Affenbrotbaum (Baobab) mit seinen wasserspeichernden Ästen, der die gleiche Eigenschaft wie die Weisheit hat: Man kann ihn nicht umarmen. Vielleicht turnen darauf einige Affen und geben ein Lehrstück in sozialem Verhalten und Beweglichkeit.
Die Autoritätsperson kann während des Palavers die Einhaltung ethischer Prinzipien gewährleisten, den menschlichen Aggressionstrieb in vernünftige Bahnen lenken und verhindern, dass gefährliche Strömungen überhand nehmen oder eine moralische Verwahrlosung eintritt. Jeder Beteiligte kann sich zum Wort melden, seine eigenen Argumente vorbringen und seinem Herzen Luft machen. Dabei wird so lange diskutiert, bis eine Lösung, eine Übereinstimmung, gefunden ist.
Diese Art der Konfliktbereinigung ist eine Absage an jede Form von Radikalismus und Dogmatismus sowie eine Übung in Kompromissfähigkeit. Auch in Bezug auf Straftaten wird gemeinsam nach einem allgemein akzeptierten Strafmass gesucht. Unter dem Baum erzählt man sich auch Geschichten, und an diesem schattigen Platz werden manchmal Feste gefeiert. Hier ist auch der zentrale Ort für die Alltagsgespräche, für die Diskussion über Alltagssorgen.
Deshalb ersetzt das Palaver unterm Palaverbaum in vielen afrikanischen Dorfgemeinschaften die öffentlichen Gerichte, die ohnehin meistens ausschliesslich in grösseren Städten vorhanden sind. Vielleicht sollte auch in unseren Breitengraden bei jedem Haus, zumindest aber in jedem Quartier oder Dorf, ein Palaverbaum bestimmt werden, um die Gerichte zu entlasten und Gerichtskosten zu reduzieren. Es gibt keine anderen Methoden der Schlichtung und Straftatenbereinigung, die derart flexibel auf die lokalen Verhältnisse, auf die speziellen Umstände und den Zeitgeist abgestimmt werden können.
Leider werden die Rituale unter den Palaverbäumen in Afrika heute häufig durch eine Juristerei ersetzt, die von den Kolonialmächten importiert worden ist und auf welche die Machthaber mehr Einfluss nehmen können. Die exzessive, aus purer Geldgier herausgewachsene, ekelhafte Klagemanie der US-Amerikaner, die im Lande selber und bis hinaus in alle Teile der Erde als Terror empfunden werden muss, zeigt drastisch, wohin das führen kann.
Für Sammelklagen-Grossveranstaltungen, welche viele US-geschädigte Länder und Völker aus guten Gründen veranstalten sollten, müsste man wohl nicht einen einzelnen Baum, sondern einen ganzen Wald in Anspruch nehmen.
Walter Hess
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