Freut euch des Nebels!
Gedanken zu einer zu Unrecht verpönten Naturerscheinung
Autor: Walter Hess
„Der Raum wird in Stimmung aufgelöst, die Dinge werden in der Sprache des inneren Erlebens wiedergegeben. Jeder Baum, jeder Gegenstand erhalten ein neues Gesicht. Man fühlt die Landschaft wie ein Lebendiges unter einem Schleier. Die Weiten werden ausgelöscht, die Nähen erhalten eine neue Feierlichkeit.“
Dieser Text ist dem Werk Rainer Maria Rilkes (1875–1926) entnommen, dem naturalistisch geprägten österreichischen Dichter, der bei der Bergkirche von Raron VS bestattet ist – in einem nebelarmen Gebiet. Ob Nebel oder nicht, irgendwann spielt das ohnehin keine Rolle mehr.
Bevor es so weit ist, kann der Nebel das Gefühlsleben schon beeinflussen. Besonders eine längere Serie von Nebeltagen oder -wochen, wie sie sich im Einzugsgebiet der grossen Flüsse des Mittellandes jedes Jahr im Spätherbst und Winter mehrmals einstellt, schlägt vielen Leuten brutal aufs Gemüt: Winterdepression. In der englischsprachigen Fachliteratur spricht man von SAD = seasonal affective disorder, was so viel wie „saisonal bedingte Verstimmung (Unordnung)“ bedeutet.
Das melancholische Grau in Grau, dessen Herkunft im einleitenden Text beschrieben ist, färbt auf sie ab und macht sie energielos, besonders wenn das Wissen dazu kommt, dass etwas weiter oben die Sonne lacht und ein Entfliehen aus dem Inneren der gewissermassen zu Fuss gehenden Wolken, dem Bodennebel, unmöglich ist. Denn es ist in der Regel anderes zu tun; dort unten rufen die Pflichten, und mögen sie noch so sehr ins Grau verhüllt sein. Viele Menschen fühlen sich veranlasst, in ein Stimmungsloch, in Melancholie eben, zu verfallen. Deshalb wäre der Nebel in demokratischen Ländern wahrscheinlich durch Mehrheitsbeschluss schon längst verboten worden, hielte er sich an solche Direktiven.
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Ich selber wohne im Mittelland am Jurasüdfuss, wenig oberhalb der Aare, nahe bei Aarau – am Rande des Mittelland-Kaltluftsees, habe gewissermassen also Seeanstoss, was für Wohnlagen im übrigen als Attraktion gilt. Aber ich lehne es auch in ausdauernden Nebelperioden konsequent ab, zu leiden, Trübsal zu blasen. Ich finde solche Naturerscheinungen, die sich wegen der nächtlichen Abkühlung vor allem am Morgen einstellen, im Sinne Rilkes tatsächlich wunderschön: Das Auslöschen der Weite und das filigrane Einpacken des Nahen lenkt einen in die Geborgenheit einer eng abgegrenzten Welt zurück, die in mancherlei Hinsicht Behaglichkeit vermittelt. Plötzlich treten aus dem nivellierenden Grau Einzelheiten hervor, die bis anhin in der verwirrenden Totale der vielgestaltigen, üppig eingefärbten Landschaft untergegangen waren. Die Blätter sind abgefallen. Jetzt kommt der Nebel und verschleiert in barmherziger Art, was wir im Verlaufe einer Vegetationsperiode – und selbstverständlich auch schon früher – der Natur alles angetan haben.
Was erlebt, wer die Gelegenheit hat, an einem windstillen, schönen Novembermorgen auf die Wasserfluh (Aargauer Jura, oberhalb Küttigen CH) zu steigen, hat Charles Tschopp bildhaft so beschrieben: Aus dem gewaltigen Nebelmeer ragen die Hügelrücken des Mittellands „wie langgestreckte, niedrige, oft überspülte Inseln. Gegen Norden gewendet, blickt man dagegen auf das sonnige, immer noch in den warmen Farben des sterbenden Herbstes leuchtende Gebiet des Tafeljuras; und nur wo der Schwarzwald aufsteigt, entdeckt man den gewöhnlich etwas leichteren Nebel in der Rheintalfurche. Mit steigender Sonne heben sich die Nebelströme, zerfasern, werden leicht, ja unwirklich, und plötzlich glitzert die Aare durch – aber nicht immer: Die wasserübersättigte Luft des Mittellandes bildet oft wochenlang andauernde, bedrückende Nebel. 70, 80, ja 90 Nebeltage zählt man im Jahresdurchschnitt, im Fricktal und Baselland kaum 20 bis 30. Das ist der Zoll, den das aargauische Mittelland dafür entrichtet, dass sich in ihm so viele Täler und Gewässer sammeln.“
Doch hat der Nebel auch willkommene Auswirkungen: Im Winter schützt er die Kulturen vor allzugrosser Abkühlung, was zwar je länger desto weniger nötig ist. Die Gegenden seiner grösseren Verbreitung sind daher viel weniger Spätfrösten ausgesetzt als die helleren Lagen.
Der Feuilletonist Rudolf Geck (1868–1936) war ebenfalls von dieser Naturerscheinung angetan: „Von allen Erscheinungen der sinnlichen Welt ist der Nebel die sanfteste, die einlullendste, die beruhigendste. Wie auf ungeheuren Händen trägt er die Stille vor sich her.“
„ ...der weisse Nebel wunderbar“ Der Mond ist aufgegangen, Wie ist die Welt so stille |
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Der Nebel kann auch zur Einkehr animieren: Plötzlich sind Impulse da, um in die 4 Wände und vielleicht auch etwas in sich zurückzukehren, um den Fitness- und Gartenstress zu vergessen. Wir können eine Kerze oder ein Kaminfeuer anzünden und uns an einem Buch erfreuen, das bei den Pendenzen schon lange darauf wartete, gelesen zu werden. Wer demgegenüber die leichte saisonale Depression pflegen will und somit zu viel Zeit für seine Psyche hat, wendet sich der jüngeren, das eigene Volk ständig anklagenden Schweizer Literatur zu, und wer fröhlichen Gemüts bleiben will, der meidet diese eben und wählt Bücher aus, in denen Zuversicht und Humor inbegriffen sind, die nicht vor Selbstvorwürfen und Moralin triefen und die nicht in Trübsal erstarrt sind. Und er ärgert sich auch nicht über das alljährliche Ritual der einfältigen Umstellung der Uhren auf die Winterzeit (Normalzeit), die uns zusätzlich aus dem Rhythmus und – in einzelnen Fällen – sogar hinein in die Niedergeschlagenheit wirft.
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Etwa 10 % der Schweizer sollen gemäss einer Untersuchung der Neurobiologin Anna Wirz-Justice, Leiterin der chronischen Abteilung der Universität Basel, von saisonalen Depressionen (lateinisch: deprimere = niederdrücken) befallen sein; die Sache nimmt also epidemische Züge an. Von den Betroffenen sollen 2 % das Vollbild einer depressiven Verstimmung entwickeln. Sie verkennen offenbar die Schönheiten des Nebels, der Nebelfetzen, der phantastischen Bilder und der Ästhetik eines durch den Nebel dringenden Lichtstrahls mit seinem oft rasterähnlichen Moiré. Die Professorin empfiehlt zur Freude von Royal Philips Electronics, dieser Niedergeschlagenheit bei Antriebsschwäche und Gereiztheit mit der Lichttherapie zu begegnen, allenfalls mit 1000 Lux-Lampen wie True-Lite. Wer sich an sonnigen Sommertagen im Freien aufhält, ist einer Beleuchtungsstärke bis zu 100 000 Lux ausgesetzt. Ausgedehnte Spaziergänge im Freien sind auf jeden Fall empfehlenswert. Und Johanniskraut (Hypericum perforatum L.), das als Urtinktur erhältlich ist, unterstützt die biologischen Wirkungen des Lichts.
Wie viele andere Lebewesen auch, so sind die Menschen in einem beachtlichen Ausmass lichtgesteuert. Die Lichttherapie (Beleuchtungsbäder) ist gewiss sinnvoller als das Schlucken von Antidepressiva, mit denen heute jeder Absturz der Gefühle kuriert wird, auch die künstlich herbeigeführten. Anderseits müsste es doch möglich sein, die natürliche Verschiebung der Anteile von Hell und Dunkel im immer gleich langen Tagesverlauf ohne Weiteres zu verkraften, die in unseren gemässigten Zonen unterschiedlichen Jahreszeiten mit ihren verschiedenen Eigenschaften zu erleben und zu geniessen. Aber wir leben eben in einer therapiefreudigen Gesellschaft. Geschäft ist Geschäft.
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In einer kühlen, feuchten Luft geht das Atmen leicht; jede Füllung der Lunge kommt einer von Innen heraus wirkenden Erfrischung gleich – auch wenn eine „Nebeltherapie“ merkwürdigerweise noch nicht erfunden ist. Pflanzen machen von der Luftfeuchte regen Gebrauch, was am prägnanten Beispiel der Vegetation in der Namib-Wüste dargelegt werden soll: Die bekannteste Pflanze im Namib ist die Welwitschia mirabilis, die an Stellen gedeihen kann, wo es nie regnet – und sie kann 2000 Jahre alt werden. Sie wird ausschliesslich vom Küstennebel getränkt und ist auf einen höchst sparsamen Umgang mit Wasser spezialisiert. Ihr fein verzweigtes, nur etwa 10 cm unter der Oberfläche ausgebreitetes Wurzelwerk saugt die von den Blättern herabrollenden Tautropfen auf. Um ihr feines Wurzelgeflecht nicht zu beschädigen, darf man sich ihr nicht zu sehr nähern. Und auch die Lichen, ganze Felder von Flechten, werden im Namib vom Tau zum Leben erweckt und am Leben erhalten.
Das Wort „NEBEL“ ist ein Palindrom, d. h. es ergibt auch rückwärts gelesen einen Sinn: LEBEN. Auf die Welwitschia trifft das exakt zu.
In der Namib lässt der kalte Benguela-Strom entlang der namibischen Küste kaum Niederschläge zu. Der 80 bis 120 km breite Wüstenstreifen vom nördlichen Kunene bis zum Oranjefluss im Süden ist die Folge davon. In dieser faszinierenden, kühlen Küstenwüste bildet sich fast täglich Nebel, wenn sich die vom Atlantik her eingeströmte Luft abkühlt; die Niederschlagsmenge macht demgegenüber in der Regel weniger als 20 mm pro Jahr aus.
Der Nebel ist hier die treibende Lebenskraft für die Natur, für die Tier- und die Pflanzenwelt, das Lebenselexier. Es gibt dort Käferarten, denen es gelingt, sich im Kopfstand dem Wind entgegenzustellen und dem Nebel Wasser zu entnehmen, das sich an seiner Oberfläche kondensiert hat. Bei diesen Nebeltrinkern handelt es sich um Schwarzkäfer der Tenebrioniden-Familie, die alle Tricks gegen Hitze und Trockenheit kennen. Die Körper der Tenebrioniden haben die fürs Wüstenklima genau richtige Konstruktion: Die Vorderflügel sind zu einer harten, geschlossenen Deckschale verwachsen, die vor Ausdünstung schützt. Allerdings ist der Käfer dadurch fluguntaulich geworden. Doch dieses Fliegen wäre ohnehin mit Verlusten verbunden: Energie und Kühlwasser.
Die Schwarzkäfer (Onymacris unguicularis) lecken den Tau vom Boden, in den sie zur Vergrösserung der Wasserausbeute lange Gräben gezogen haben, und sie können in Ruhestellung die Atmung stark reduzieren. Und einige Zwergbuscharten haben angepasste Blätter, die Nebelwasser einsammeln können. Die Seitenwinderviper ihrerseits trinkt Nebelwasser, indem sie den Niederschlag von ihren Schuppen leckt. Wüstenmäuse, Wüstenhasen und Oryxantilopen kommen indirekt zum Wasser, indem sie sich von Käfern und Pflanzen ernähren, die die neblige Luft angezapft hatten.
An der chilenischen Küste, die vom kalten Humboldtstrom bestrichen wird, gibt es ähnliche klimatische Verhältnisse: wenig Wasser, aber viel Nebel. Und so haben sich die Einwohner des staubig-trockenen Dorfes Chungungo, etwa 500 km nördlich von Chiles Hauptstadt Santiago gelegen, von der Natur inspirieren lassen. An Land haben sie grosse Netze aus Polypropylen aufgespannt und fangen damit das Wasser aus dem Nebel ab, der über die Kordilleren kriecht. Wie der Morgentau an den Spinnennetzen, so bleiben auch die Nebeltröpfchen an den feinen Maschen der Netze hängen. Wenn sie gross genug sind, fliessen sie als feine Rinnsale zu Boden. Dort werden sie in Röhren gefasst und ins durstende Dorf geleitet. Aus einem Quadratmeter Netz lassen sich pro Tag etwa 4 Liter Wasser gewinnen. Auch viele andere Bewohner nebliger Wüstengebiete haben Techniken entwickelt, dem Nebel Brauchwasser abzutrotzen.
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Der Nutzen des Nebels ist das eine, seine verklärende Schönheit das andere. Und irgendwann, an einem Herbstvormittag, im Winter oder im Frühjahr, lichtet sich jeder Nebel, wie der nachstehende Griff in die Lyrik-Mottenkiste, Abteilung Eduard Mörike, beweist:
„Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fliessen.“
Nach dem Verschwinden des Herbstgolds und, einige Monate später, der winterlichen Nebelphase wird das zunehmende Verlangen nach Licht, Sonne, Wärme und Himmelsblau im Frühling auf besonders liebreizende Weise gestillt – und um so intensiver, freudiger empfinden alle, die dann aus dem Nebel auftauchen, den sich weiterdrehenden neuen Naturzyklus.
Quellen
Arnold, Martin: „Millionen Tröpfchen für einen Tropfen“, in „Die Weltwoche“ vom 22. Januar 1998.
Geck, Rudolf: „Nebel und Regen“, aus „So war das“, Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1936.
Hess, Walter: „Natursensationen in Namibia“, in „Natürlich“ 2-1996.
Tschopp, Charles: „Überblick über Landschaften und Siedlungen“, in: Mitteilungen der Aargauischen Naturforschenden Gesellschaft, Heft XXIV: „Aargau – Natur und Erforschung“. Verlag H.R. Sauerländer, Aarau, 1953.
Vogel, Dieter: „APA Guide Namibia“, APA Publications (HK) Limited, Hongkong 1994.
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