Die Schlafmütze
Autor: Emil Baschnonga
Horace schmunzelte, als er in einer englischen Zeitung las, dass Kinder Schlafmützen im Bett tragen sollten, um warm zu bleiben. „Dazu braucht man kein Kind zu sein“, murmelte er in sich hinein.
Seine Mutter hatte ihm eine solche Zipfelmütze zu seinem 11. Geburtstag gestrickt für seinen Auftritt im Schultheater. Sie war aus blau-roter Wolle und hatte eine bunte Quaste am Zipfel.
Ausser seiner Frau wusste niemand, dass er diese Mütze während kalten Winternächten im Bett trug. Er hielt die Mütze von seiner Mutter hoch in Ehren. Sie begleitete ihn auf geschäftlichen oder privaten Reisen.
Horace war ein Geschäftsmann um die Mitte Vierzig. Seine Mitarbeiter fanden ihn eher fad und gewissenhaft, auch recht verschlossen. So schickt es sich wohl für einen Mann, der tagtäglich Produkte der Feinmechanik vertreibt.
Es ist schon so in dieser Welt, dass sich oft allerlei hinter der Fassade eines Menschen verbirgt. Horace legte grossen Wert auf seine Privatsphäre. War seine Zipfelmütze bloss eine Marotte? Oder war sie seine Maskotte, sein Fetisch oder Talisman?
Sie war viel mehr! Im Verlauf der Jahre hatte sie zunehmend eine geheimnisvolle, spukhafte Macht über ihn gewonnen. Mit ihr dichtete er sich vor äusseren Einflüssen ab. Mit ihr auf dem Kopf lebte ein tropisches Innenleben in ihm auf, das jede normale Wirklichkeit bei weitem überflügelte. Mit ihr dichtete und träumte er und wob Phantasiegespinste. Mit ihr wurde er während der Nacht zu dem, was er tagsüber nicht geworden war: ein Held.
„Schon wieder und jetzt schon?“ klagte seine Frau. So machte er sich ohne Mütze zuerst an die ehelichen Pflichten, ehe er sie aufsetzte und tief über Augen und Ohren hinweg zog, bis zur Nasenspitze. Darunter herrschte pechschwarze Nacht und Totenstille. Wie im Computer lud sich ein Programm auf, in dem er wieder die Hauptrolle spielen konnte, wie nirgends sonst in seinem Leben. Hatte das etwas mit seinem damaligen und einzigen Theaterauftritt in der Schule zu tun? Das wird niemand erfahren – auch er nicht.
Jetzt stieg Licht in seinem Bildschirm auf: grau melierte Wolken, durch die hin und wieder ein blasser Sonnenkreis schimmerte. Wolkenbilder? Sie zogen rasch an seinen Augen vorbei. Eine Kulisse formte sich.
Horace war nicht sonderlich belesen; doch erinnerte er sich vage an die Geschichte von „Jack und die Bohnenstange“. Nein, es gab keine Kuh, die er gegen Wunderbohnen tauschen konnte. Auch brauchte er keine Bohnenstange zu erklettern. Er war schon über den Wolken und zum Riesen verwandelt, wie in der Fabel. Aber kein böser, sondern ein guter. In seinem Palast gab es weder Gold noch eine Gans, die goldene Eier legte.
Aber etwas hatte er von einer Wundergans: einen gigantischen Gänsekiel. Diesen nahm Horace, der Riese, jetzt zur Hand. Er hatte sogar einen zweiten, den er mit der freien Hand ergriff. Damit ging er zum Schlossgarten. Der war nicht mehr da, und er fiel stracks durch den wolkenlosen Himmel. Hätte er nicht diese 2 Kiele gehabt, wäre er tödlich abgestürzt, weit unten auf der Erde und weit, weit weg von seiner Heimat im Firmament.
Schwungvoll begann Horace, der Held, mit den Federn zu rudern. Horace, der Riese, wurde zum Riesenvogel. Er segelte über die Landschaft und genoss dieses einmalige Erlebnis. Der Traum der Menschheit hatte sich für ihn erfüllt. Für ihn allein war dieser Traum zur Wirklichkeit geworden. Er war, wie es seine Zipfelmütze gebot, wahrhaftig zum HELDEN geworden, heldenhaft, gross geschrieben.
Da er ein guter Riese war, wollte er seine Gabe mit der ganzen Welt teilen. Aber wo sollte er beginnen? Dort, wo das grösste Elend herrsche, beschloss er. Eine Riesenauswahl breitete sich unter ihm aus. Welches Elend sollte er zuerst aufsuchen und in Glück verwandeln? „Das spielt keine Rolle“, dachte er zuletzt, „besser beginne ich irgendwo“. Horace, der Riese, liess sich vom Wind treiben. „Es liegt am Wind zu entscheiden, wo er mich absetzen will.“ Der Wind aber liess sich viel Zeit, viel zu viel Zeit.
„Du bist mir eine Schlafmütze! Das ist der 8. Rippenstoss“, hörte er seine Frau sagen, als sie ihn endlich aus dem Schlaf rüttelte. Horace zog an der Quaste die Zipfelmütze vom Kopf. Und damit war schlagartig jede Erinnerung an seinen Flug erloschen. Nur ein gutes Gefühl blieb von der Nacht übrig, wie immer, wenn er seine Wundermütze trug. Ein fader Alltag stand ihm bevor.
So bleibt dieser Geschichte der Epilog erspart, obschon sie einen verdiente.
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