Schwelgen im Lindenblütenduft
Eine Laune der Natur hat mir am Rande unseres Grundstücks eine Winterlinde (auch Berglinde genannt) geschenkt. Auf einer Mauerkrone wuchs sie in den letzten Jahren zügig empor, ist nun etwa 7 m hoch und jeweils im frühen Sommer (im Juni oder Anfang Juli) mit einem eigentlichen Blütenteppich überdeckt. Alljährlich nach dem Aufblühen binde ich mir einen geflochtenen Chratten um den Bauch, tauche mit Hilfe einer Leiter in diese aromatherapeutische Blütenwelt ein, pflücke und atme wie in einem Rausch das Lindenparfüm ein, das jede Sekunde neu entsteht. Ich möchte, soweit es noch in die Blüten eingebunden ist, in den Herbst und Winter hinüberretten und dann in der Teetasse wieder finden.
Dass eine Prachtstrasse auf Geheiss des Grossen Kurfürsten mit Lindenbaum-Reihen bekränzt wurde, spricht für die Wertschätzung der Linden: „Unter den Linden“ in Berlin, der schönste Verkehrsweg der deutschen Hauptstadt. Früher pflanzten naturverbundene Eltern zur Geburt eines Kindes einen Lindenbaum, sinnreich das Menschenleben mit dem Baum verknüpfend. Linden gehören auf Grundstücke, aber auch in Städte und Dörfer, obschon sie Abgase nicht leiden mögen (und dann manchmal von der Wolligen Napfschildlaus befallen werden); auch in Mischwäldern sind Linden in ganz Europa anzutreffen. Sie schenken Interessenten von ihren Blüten mehr als genug. Für den Normalbedarf genügen schon jene, die man leicht und ohne Leiter erreichen kann.
Und wenn einmal eine Linde gefällt werden muss, kann das weiche Holz zum Schnitzen verwendet werden, wie das schon Veit Stoss und Tilman Riemenschneider getan haben. Aus der zerstossenen Rinde machte man früher einen trinkbaren Absud, der äusserlich insbesondere gegen Verbrennungen eingesetzt wurde. Ich selber bin stolzer Besitzer eines Backtroges aus dem hellen Lindenholz, der ein Bindeglied zum selbst gebackenen Brot ist und in dem, wie mir scheint, der Teig bei jedem Gebrauch fröhlicher aufgeht. Vielleicht haben sich einige Hefepilze oder Milchsäurebakterien ins poröse Holz verkrochen, um bei der nächsten „Bachete“ mitzuwirken. Die Lindenholzkohle kommt übrigens als Aktivkohle bei Vergiftungen im Verdauungstrakt zum Einsatz. Es empfiehlt sich ein paar von den schwarzen Tabletten mit auf die Ferienreise zu nehmen.
Alle Lindenarten (Sommer-, Winter- und Silberlinde) haben dieselben Vorzüge. Beim Pflücken der Lindenblüten entwickelt sich allmählich eine eigentliche Fingerfertigkeit. Dabei müssen die gelblichen Blüten mit den je 5 Kelch- und Kronblättern, den zahlreichen Staubblättern und den oberständigen, dicht behaarten Fruchtknoten der Einfachheit halber gleich jetzt von den netznervigen, herzförmigen Hochblättern und dem blassen Zünglein, das die Blüten begleitet, getrennt werden. Die Blätter sind meistens mit der Blütenstandachse verwachsen. Aus Daumen, Zeige- und Mittelfinger habe ich eine Art Zange gebildet, bei welcher der Daumennagel die scharfe Kante zum Abtrennen bildet. Eine gewisse schweisstreibende Wirkung ist schon jetzt zu verspüren, sobald man das Pflücktempo steigern will, eine Konzentrationsübung.
Die Blüten lasse ich anschliessend, sorgfältig auf ein Sieb ausgebreitet, im Wintergarten trocknen, immer in der Hoffnung, der Wonneduft möge möglichst lange erhalten bleiben. Die trockenen Blüten, in die immer noch etwas vom ätherischen Öl eingeschlossen ist, warten dann in einem Leinensäcklein an einem trockenen Ort auf ihren Einsatz, falls sich Hustenreize, Blähungen, Krämpfe in der Magengegend oder Nieren-Blasen-Katarrhe melden sollten. Falls dies nicht der Fall ist, geniesse ich einfach den Tee des zarten, süsslich-schweren und gleichwohl eleganten Aromas wegen und erinnere mich an die Stunden des Pflückens. Der Lindenblütentee beruhigt und lässt einen herrlich schlafen.
Beim bekannten Naturheiler Maurice Mességué ist nachzulesen, der Lindenblütentee verdünne und reinige das Blut und beuge damit Arterienverkalkungen, Venenentzündungen, Angina pectoris (Herzenge) und Herzinfarkten vor. Die harntreibende Wirkung kommt auch Rheumakranken zugute.
Die Teezubereitung
Die Lindenblüten (etwa anderthalb Handvoll pro Liter Wasser) werden nur angebrüht; man macht also einen Aufguss. Diese Form der Teezubereitung eignet sich für alle Blüten, Blätter und Samen: Die Pflanzenteile werden in einen Teetopf gegeben, mit kochendem Wasser überbrüht und 5 bis 10 Minuten lang ziehen gelassen, d. h. bis er etwas rot wird. Während dieser Zeit empfiehlt es sich, den Tee ein paar Mal umzurühren. Danach wird der Aufguss abgesiebt und in Ruhe warm getrunken. Beim Abkochen, das bei Rinden und Wurzeln angezeigt ist, würden die meisten Wirkstoffe der zarten Blüten zerstört.
Manchmal nütze ich eine Errungenschaft aus der chinesischen Küche, wo ins Teewasser (vor allem bei der Zubereitung von Tees aus Zitrusfrüchten) zuerst etwas in Wasser angerührtes Maizena (Maisstärke), das auch in Bio-Qualität käuflich ist, und Zucker gegeben werden. Der Tee wirkt dann etwas voller, runder.
Falls Sie noch ein Rezept für Lindenblütenhonig erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. Die Bienen sind für dessen Produktion zuständig, und diese wissen schon, wie das geht.
Walter Hess
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