Von Innenleben erfüllte Chriesi
Allein schon die Kirschenblüte rechtfertigt die Existenz von Kirschbäumen. Was wäre ein Frühling ohne diese gewaltigen Blütenornamente! Und dann dauert es nur wenige Wochen, bis die roten und schwarzen runden Früchte zum Dreinbeissen einladen, eine Pionierleistung im Rahmen des einheimischen Früchtewettlaufs. Im Autosportjargon spricht man bei solchen Leistungen von Poleposition. Frisch ab Baum sind die Chriesi unübertroffen.
Die Kirschen sind wunderbar süss, und die gewaschenen Steine kann man in Stoffsäcklein einfüllen, diese zunähen und im Winter ofenwarm mit ins Bett nehmen. Die Steinsäcklein schmiegen sich den Körperformen wunderbar an. Wer im Sommer Kirschensteine sammelt, beweist Weitblick.
Kirschenliebhaber im Kleinformat
Kirschenliebhaber haben Verständnis für die Kirschfruchtfliege mit dem stolzen lateinischen Namen Rhagoletis cerasi, die es ebenfalls auf Kirschen abgesehen hat. Sie hat ihr Leben vollkommen diesen süssen Früchten verschrieben.
Diese Kirschfruchtfliege überwintert als Puppe im Boden und wartet auf die hohe Kirschenzeit. Ab Mitte Mai schlüpfen daraus die Fliegen. Diese legen ihre Eier in Früchte, die jetzt am Beginn der Gelbfärbung stehen. Die gelbe Farbe übt auf sie eine unwahrscheinliche Faszination aus. Vielerorts werden deshalb gelbe Kirschenfliegenfallen an die Bäume gehängt, Kunststoffplättchen, die perfiderweise beleimt sind und die Insekten gefangen halten, ein trauriges Ende nach der Geduldsprobe! Besonders intelligente Kirschenfliegen benützen das Fallengelb nur als Orientierungshilfe, lassen die Fallen unbeachtet und steuern direkt auf die Kirschen zu. Jedenfalls habe ich schon Kirschen von Bäumen gegessen, die, richtigerweise besonders auf der Südseite, mit 10 Fallen dekoriert und gleichwohl mit „Würmern“ reich gespickt waren.
Für mich sind Kirschenwürmer ein untrügliches Zeichen für Bioproduktion, und Kirschen ohne einen einzigen „Wurm“ sind chemie-verdächtig, es sei denn, es handle sich um Frühsorten, die zum Zeitpunkt der Eiablage bereits rot sind und deshalb seltener Besuch erhalten.
Bringe ich solche Argumentationen in trauten Runden vor, dringe ich damit kaum durch, auch wenn ich mit meinen zoologischen Erkenntnissen auftrumpfe: Die Kirschwürmer sind genau genommen Maden. − „Noo grüüsiger!“ schreit jeweils die versammelte Runde wie aus einer Kehle. Dass diese Maden ein wertvolles Eiweiss enthalten und somit essbar sind, wage ich angesichts dieser Abwehrhaltung jeweils kaum noch anzufügen.
Der Madenbefall ist äusserlich durch eine braune eingesunkene Stelle nahe dem Stielansatz erkennbar. Die Made zerstört mit der Zeit die Pulpa um den Kern und verwandelt sie in eine braune, faulende Masse, was sie unbeliebt macht. Man wird die entsprechenden Kirschen also aussortieren, wenn aber ein Tierchen unentdeckt bleibt, wird man daraus kein Drama machen, höchstens aus tierschützerischen Gründen.
Das Chriesikonfi-Rezept
Wir haben kürzlich aus teilweise befallenen, erlesenen und verlesenen Kirschen eine Konfitüre gemacht, die ebenfalls in die Spitzenposition gehört: Die Kirschen wurden entsteint und gewogen. Pro Kilo Kirschen werden 1 kg Gelierzucker (Zucker mit Pektin[1] und Zitronensäure) bereitgestellt. Die Hälfte des Gelierzuckers wird mit den Kirschen vermischt. Nach einigen Minuten kann man bisher allfällig unentdeckte Maden noch herausfischen. Man lässt diese Mischung über Nacht stehen und kocht sie dann auf. Nach 1 oder 2 Minuten Kochen gibt man den restlichen Zucker dazu und lässt weitere 3 bis 5 Minuten köcheln. Etwas Zitronensaft und abgeriebene Biozitronenschale verstärken die (zwar ohnehin vorhandene) Säure und den Duft angenehm. Wenn sie noch nicht verblüht sind, fügt man in der letzten Kochphase eine Handvoll abgezupfte Holunderblüten dazu, sonst aber Lavendelblüten, die man aus den Rispen gezupft hat. Das bringt eine zusätzliche Duftdimension in die Konfi (Marmelade). Ganz am Schluss habe ich noch 2 Esslöffel Kirsch beigefügt und dann sofort in heisse Gläser abgefüllt und mit heissen Schraubdeckeln verschlossen.
Ich sage Ihnen aus voller Überzeugung: Diese Konfi ist ein Festessen. Sollte jemand gewisse Zweifel anmelden, sperren Sie ihm den Zugang zu dieser Delikatesse und geniessen Sie das himmlisch duftende geleeartige Kochkunstwerk höchstpersönlich.
Walter Hess
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[1] Pektin (E 440) kommt als Gerüstsubstanz in den Zellen höherer Pflanzen vor; Äpfel, Zuckerrüben und Zitrusfrüchte haben einen besonders hohen Gehalt. Es wird mit grossem technischem Aufwand daraus gewonnen und hat wegen seiner im Beisein von Säure gelbildenden Eigenschaften auch in der Konfitüre Stützfunktionen. Ein geriebener Apfel kann des Pektingehaltes wegen den Durchfall des Säuglings beenden.
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