Das kleine Schweinchen
Von Manfred Schröder
Bald steht, wie jedes Jahr, Weihnachten vor der Türe. Weihnachten ist für mich nicht nur das Fest der Liebe und der Geschenke, des glitzernden Baumes und der Anblick der lieben Verwandten, sondern auch des Schweinebratens. Doch seit einiger Zeit will es mir nicht mehr so richtig schmecken. Denn ich muss immer wieder an das kleine Schweinchen denken, das ich persönlich gekannt habe. Alles erdenkliche Glück habe ich ihm gewünscht und hätte es gerne gesehen, wenn es zu einer grossen und fetten Sau herangewachsen wäre. Doch leider ... Dies ist also die ach so herztraurige Geschichte.
Als das neue Schuljahr begann, durfte auch das kleine Schweinchen die Bank der ersten Klasse drücken. „Ein kleines, schlaues Schweinchen“, wie die einen sagten. „Und ein genügsames“, wie die anderen hinzufügten. „Es frisst alles. Sogar Spinatsuppe, bei deren Anblick die meisten Kinder grün im Gesicht werden.“
Ja, das kleine Schweinchen war sehr beliebt. Beim Lehrer, weil es immer so artig dasass; bei den Kindern, weil sie mit ihm spielen durften und es ihnen bei den Schularbeiten half. Und beim Bauer natürlich, der auch schon so seine Pläne hatte. Denn auch dieses Jahr würde es wieder ein Weihnachten geben. Doch davon hatte das kleine Schweinchen keine Ahnung. Denn seine Mutter Jolanda war gar nicht mehr dazu gekommen, ihm zu erklären, was es so auf sich hat mit Weihnachen, dem Fest der Liebe.
Der Herbst war kurz, aber schön. Doch als der November begann, wollte es gar nicht mehr aufhören zu regnen. Alles war grau und trostlos. Auch das Kleine Schweinchen war in trüber Stimmung. Im Unterricht war es zum Leidwesen des Lehrers nicht mehr so aufmerksam wie früher. Und hatte auch keine Lust mehr, mit den Kindern zu spielen und ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen. Der Lehrer erzählte dem Bauern davon. Dieser war zwar einfach im Geiste, und der Rand des Kartoffelackers war auch gleichzeitig das Ende der Welt für ihn. Doch er wusste aus bäuerlicher Erfahrung, dass nur ein fröhliches und glückliches Schwein gutes Fleisch brachte. So versuchten er und die Bäuerin das kleine Schweinchen bei guter Laune zu halten. Man kaufte ihm allerlei Spielzeug und verwöhnte es mit Leckerbissen. Sogar im Wohnzimmer durfte es sitzen und sich mit den anderen Kindern die Muppet-Show ansehen. Dies alles heiterte das kleine Schweinchen wieder auf. Und es wäre wohl auch wieder so unbekümmert und fröhlich wie früher geworden, wenn es nicht jenes Gespräch mitbekommen hätte.
Kurz vor Weihnachten, alles war weiss und eisig (das kleine Schweinchen hatte sogar Schlittschuhlaufen gelernt), hörte es, wie der Bauer zur Bäuerin sagte: „Am Samstag ist es soweit. Ich habe schon den Schlachter bestellt. Denn unser kleines Schweinchen ist jetzt im richtigen Alter, wo das Fleisch besonders gut schmeckt.“
Als es dies hörte, wäre es fast schon hinter der Bretterwand gestorben, wo es sich gerade befand. Das kleine Schweinchen war zwar noch jung und unerfahren, doch dumm war es nicht. Und es konnte sich ganz gut vorstellen, was am Samstag passieren würde. So packte es noch am selben Abend seine wenigen Habseligkeiten zusammen und verliess bei Nacht und Mond den Hof. „Bloss weg von hier“, dachte es. „Vielleicht gibt es woanders Menschen, die Vegetarier sind. Oder lieber Hühnerfleisch essen.“
3 Tage und Nächte war das kleine Schweinchen nun schon unterwegs. Besser gesagt: auf der Flucht. Es ernährte sich von dem, was es hier und da fand. Denn dies ist der Vorteil von Schweinen; sie können fast alles fressen. Besonders wenn sie hungrig sind. Und dies war es immer. Einmal fand es sogar Unterschlupf in einer Scheune, wo es vor Schnee und Kälte geschützt war.
Manchmal bereute das kleine Schweinchen, dass es nicht seine Schlittschuhe mitgenommen hatte. Doch am Abend des 4. Tages war es so hungrig und müde, dass es beschloss, irgendwo anzuklopfen und um eine Nachtbleibe zu bitten. Als es die ersten Häuser erblickte, fasste es sich Mut und ging auf eines der erleuchteten Fenster zu. Vor der Türe blieb es stehen, atmete tief durch und klopfte so feste es konnte dagegen. Es dauerte eine Weile, bis es Schritte hörte und sich die Türe öffnete. Der Sohn des Rabbis stand vor ihm. Erstaunt blickte dieser auf das kleine und seltsame Wesen vor ihm. Dann durchzuckte es ihn: „Ein Schwein!“
Das kleine Schweinchen schluckte ein paar Mal und schaffte es dann, zu sagen: „Ich bin hungrig und müde vom langen Wandern und bitte um ein bescheidenes Mahl und um ein Nachtlager.“ Der junge Mann stand wie erstarrt da und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
„Was gibt es da?“ fragte eine tiefe Stimme aus dem Inneren der Wohnung. „Hier steht ein Schwein und bittet um ein Nachtlager“, stotterte der junge Mann. „Igittigitt“, hörte man ein Mädchen sagen. Dann war wieder die tiefe Männerstimme zu vernehmen. „Warte, ich komme.“
Kurz darauf erschien der Rabbi, gross und mit schwarzem Bart. Er zeigte keinerlei Erstaunen, dass ein Schwein vor seiner Türe stand. Freundlich, doch mit prüfendem Blick, schaute er auf das kleine Schweinchen herab. „Da hast du aber Glück gehabt, dass du bei keinem Christenmenschen gelandet bist“, sagte er lächelnd. „Denn Weihnachten steht vor der Türe. Doch komm und tritt ein. Im Keller gibt es noch Platz. Dort kannst du schlafen. Und ich werde dir etwas zum Essen herunterbringen lassen. Doch es ist koscher.“ Das kleine Schweinchen nickte dankbar. „Ich weiss nicht, was koscher ist. Doch wenn man hungrig ist, dann freut man sich über jedes Essen.“
„So so“, murmelte der Rabbi. Und an der erstaunten Familie vorbei führte er das scheu lächelnde kleine Schweinchen nach unten in den Keller. Dort gab es Decken, worauf es sich legen konnte. Und als es gegessen hatte, koscher hin, koscher her, fühlte es sich nach langer Zeit wieder wohl und kuschelte sich tief unter die Decken.
Das kleine Schweinchen wusste nicht, wie lange es geschlafen hatte. Doch als es erwachte, konnte es sich nicht mehr bewegen. Es lag gefesselt auf einer Karre und begriff nicht, was geschehen war. Auch wusste es nicht, wo es sich befand. Nur den hohen, kalten und blauen Himmel konnte es erblicken. Es wollte schreien, doch seine Stimme war wie gelähmt. Dann hörte es den Rabbi sagen: „Gegen diese Ziege würde ich das Schwein schon eintauschen.“
„Gut“, gab der Andere zur Antwort. – Solch ein Schwein kommt mir zu Weihnachten gerade gelegen. Und als der Rabbi ging, wünschte er noch ein frohes Fest. Da fing das kleine Schweinchen an zu begreifen.
„Ich hätte es wissen müssen. Frohe Weihnachten gibt es nicht für arme Schweine.“ Doch leider hat ihm diese philosophische Erkenntnis nichts mehr genützt. Und Tränen liefen seine rosigen Wangen hinunter.
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