Luca
Nach einem mündlichen Bericht von Esthi Hufschmid, niedergeschrieben von Lislott Pfaff
Er führte ihn jeden Abend aus, seinen schönen Freund Luca mit den grau-blau-grün schillernden Augen und dem grau-weiss schimmernden Haar. Alle Vorübergehenden drehten sich um nach dem ungleichen Paar, aber Luca richtete seinen Blick verachtungsvoll in die Ferne, und sein Freund Jean lächelte stolz vor sich hin. Denn er war verliebt in Luca, verliebt in seine Schönheit, in seinen raubtierähnlichen Gang, und er war überzeugt, dass es in der ganzen Stadt nicht seinesgleichen gab.
So wurde jener Abend, an dem er Luca verlor, für Jean zu einem unvorstellbaren Drama. Er hatte ihn wie immer über die Strassenkreuzung vor seiner Wohnung und an den gegenüberliegenden Vorgärten vorbei spazieren geführt. Neben ihnen fuhren unaufhörlich Autos, ratterte das Tram vorüber. Aber Jean und Luca liessen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Mit gleichmässigen Schritten näherten sie sich ihrem Ziel, einem kleinen Park unweit der Strasse. Da sprang unversehens, aus einer Seitenstrasse kommend, ein zähnefletschender Köter auf Luca zu. Der zu Tode erschrockene Kater riss sich von der Leine seines Freundes los, um in verzweifelter Panik im gestreckten Galopp auf dem Trottoir davonzurasen und spurlos zu verschwinden. Jean rannte ihm nach, an den nächsten Vorgärten vorbei, bog in eine Nebenstrasse ein, kehrte wieder um – vergeblich. Der Kater war und blieb verschwunden. Atemlos fuhr Jean mit dem Lift zu seiner Wohnung hinauf, wo seine Frau ihn erwartete. „Wo ist Luca?“ fragte sie, als er bleich, mit gesenktem Kopf in die Küche trat. Minutenlang brachte er kein Wort hervor, liess sich auf ein Tabourett fallen und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Luca ist weg“, sagte er endlich mit gebrochener Stimme und erzählte ihr dann, was geschehen war.
Dreimal täglich überquerte Jean nun eine Woche lang die Strassenkreuzung vor seiner Wohnung, durchstreifte alle Nebenstrassen der Umgebung und ging bis zu dem kleinen Park. „Luca – Luca!“ Keine Antwort, keine verräterische Bewegung unter den Büschen hinter den Gitterstäben der Gartenzäune. Er ging auch zu dem Bauern, dessen Hof in der Nähe lag und von dem er Luca als getigerten Winzling übernommen hatte. Der Bauer hatte damals das Kätzchen töten wollen, als Jean sich zufällig aus geschäftlichen Gründen auf seinem Hof aufhielt. Das Tierchen lag im Kuhstall auf dem Zementboden und schaute ihn aus seinen übergrossen Augen so flehend an, dass er nicht widerstehen konnte, das Kleine aufhob und im Auto verstaute. Jean spielte mit dem Gedanken, dass Luca vielleicht an seinen Geburtsort zurückgekehrt war. Aber der Bauer lachte ihn nur aus: „Das Viech war doch viel zu jung, um zu wissen, woher es stammte. Geben Sie’s auf, es ist sicher schon lange von einem Auto überfahren worden.“ In seiner hoffnungslosen Verzweiflung vergass Jean den unter zivilisierten Menschen üblichen Umgangston. „Ach, lecken Sie mich am Arsch!“ entfuhr es ihm, und er ging nach Hause. Im Wohnzimmer angelangt, setzte er sich erschöpft neben seiner Frau aufs Sofa und vergrub das Gesicht in den Händen. „Wenn er unsere Strasse überquert hat – ich darf nicht daran denken …“
Inzwischen war es Luca nicht schlecht ergangen. Er hatte am Abend seiner „Befreiung“ – so nannte der ungetreue Geselle das Abenteuer mit dem zähnefletschenden Hund –, an jenem Abend also hatte er nach einigen Minuten in seinem verstörten Lauf innegehalten und dann kehrtgemacht, um auf derselben Strassenseite wieder in Richtung seines Hauses zurückzutrippeln, und war dann zwischen den Gitterstäben eines Vorgartens hindurch auf eine dicht bewachsene Grasfläche geschlüpft, die sehr einladend wirkte. Tatsächlich erwartete ihn dort eine Botschaft aus dem Schlaraffenland: ein mit saftigen Fleischstücken gefülltes Schälchen. Obwohl er kurz vor dem Spaziergang von Jean reichlich mit Futter versorgt worden war, tat sich Luca an dem gefundenen Fressen gütlich und inspizierte danach vorsichtig das Gelände. Er befand sich auf einer Wiese mit Büschen und Bäumen und mit unendlich viel Gras zum Knabbern. Vorher hatte er sich immer mit dem Blumentopf zufrieden geben müssen, in dem das langweilige Katzengras wuchs. Das hier war schon etwas anderes: hohe Halme und dazwischen verschiedene duftende Kräuter.
Nach einem kurzen Rundgang ging Luca nochmals zum Futterschälchen zurück und leckte sorgsam die letzten Fleischkrumen weg. Genüsslich fuhr er sich mit seiner rosaroten Zunge rund ums Maul. In dem Moment sah er – ja was sah er denn da? Hinter einem Busch hervor erschien ein Wesen, von dem er bisher nichts gewusst hatte, aber das er instinktiv als seinesgleichen erkannte. Nur roch das Tier nicht wie er, sondern – sondern –, also es roch weit besser, und erst noch sehr verlockend. „Wer bist du?“ fragte Luca und schnupperte begeistert in Richtung der Katze. Diese blieb unbewegt sitzen, verengte ihre Augen zu schmalsten Schlitzen und gab keine Antwort. Nur ihre weisse Schwanzspitze wippte erregt auf und ab. „Hör mal“, schnurrte Luca, „du gefällst mir ausserordentlich – wollen wir nicht Freunde sein?“ Die Katze – sie war getigert wie Luca, aber schlanker und feiner gebaut, wie es sich für eine Dame gehört – stand auf, streckte sich in ihrer ganzen Länge aus und stolzierte mit zitternd erhobenem Schwanz wieder hinter den Busch, aus dem sie zuvor aufgetaucht war. Vorsichtig schlich Luca um das Gebüsch herum und folgte dem unbekannten Wesen, das, den Körper verführerisch schwenkend, sich aufreizend langsam über die Wiese entfernte.
Wir wollen das Pärchen nicht weiter bei seinen Intimitäten stören und kehren zu Lucas untröstlichem Freund Jean zurück, der nun schon zum x-ten Mal, „Luca, Luca!“ rufend, den bekannten Gartenumzäunungen entlangging. Es hatte geregnet, das Gras leuchtete smaragdgrün. Wie Lucas Augen …, dachte Jean traurig. „Luca, Luca!“ Jean ging noch ein paar Schritte weiter und dachte schon ans Umkehren, da: „Miau“, tönte es unter einem Busch hervor, und 2 grau-blau-grüne Augen leuchteten zwischen den Gitterstäben. „Mein Luca!“ flüsterte Jean, „komm!“ Das Tier presste seinen geschmeidigen Körper zwischen die Stäbe und schmiegte sich in die ausgestreckten Hände seines Freundes. Dieser drückt sein Gesicht in das regenfeuchte Fell, wo seine Freudentränen sich mit den nassen Katzenhaaren vermischten.
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