Kritischer Hitzestand
Hin und wieder zögerte er einige Sekunden, ehe er die hitzesenkenden Hebel am Kessel betätigte. Dabei hämmerte sein Puls an den Schläfen, und Ohrensausen übertönte vorübergehend den Fabriklärm. Natürlich beherrschte er sich und tat seine Pflicht. Wahrscheinlich war auch auf das Sicherheitsventil Verlass. Und darauf wollte er es nicht ankommen lassen. Seinen Vorgänger hatte es fristlos von der Stelle auf die Strasse gepfiffen. Die Klausel, dass dieses Ventil auf keinen Fall pfeifen darf, stand auch in seinem Arbeitsvertrag. So schaltete er es einfach aus.
Weshalb kam ihm hartnäckig immer wieder das Zifferblatt der Kirchuhr von Gschwiler vor die Augen? Vor vielen Jahren lahm gelegt, wies sie immer auf 12 Uhr. Langsam stieg der Druckmesser gegen 20 atü. Das Kontrolllämpchen begann zu flackern. Der Kessel mit dem chemischen Gemisch raunte und vibrierte. Der kritische Hitzestand war erreicht.
Mit seiner verbeulten Botanisierbüchse war er als 16-Jähriger von zu Hause ausgerissen. Seither hat er die Kirche von Gschwiler nur zweimal besucht. Er legte einen Strauss Blumen aufs Grab seiner Eltern. Seine Geschwister schnitten ihn, auch Flora, die ihm die Botanisierbüchse geschenkt hatte.
Nur Anton, der alte Gärtner, hatte ihn nach dem Begräbnis auf den Zug zurückbegleitet. Anton hatte seine Gärtnerei vor einigen Jahren aufgegeben, doch noch nicht verkauft. Geschenkt hätte er sie ihm! „Sie steht leer“, sagte der alte Mann. Als der Zug abrollte rief er ihm nach: „Überlegs dir nochmal!“
Wie lange hatte Anton auf ein Zeichen von ihm geharrt? Er wusste, dass seine Geschwister inzwischen die Gärtnerei nebenan gekauft und dem väterlichen Baugeschäft angegliedert hatten. Die Steiners vergessen schlecht.
„Das ist Humbug – Gärtnerei kommt nicht in Frage“, hatte damals sein Vater kategorisch entschieden. Er wollte, dass sein ältester Sohn Architekt oder Kaufmann werde. Ein zorniger Mann war sein Vater gewesen. „Dir mach ich Beine“, war das Letzte, das er von seinem Vater gehört hatte, wie er mit dem Fuss die Botanisierbüchse in die Ecke der Küche kickte. Weit weg von Gschwiler fand er seine Stelle in der Fabrik.
„Er war doch so zuverlässig”, meinte der Fabrikdirektor kopfschüttelnd.
„Ein merkwürdiger Kauz ist er dennoch gewesen“, sagte der Chef der Produktion. „Lauter Blumenbücher in seinem Zimmer . . .“ Der Direktor schaute etwas ungehalten auf, denn er selbst sammelte Schmetterlinge. Aber das wollte er seinem Untergebenen nicht unter die Nase reiben. „Das ist unser letzter Kessel ohne automatischen Regler gewesen“, brachte er das Gespräch auf die sachliche Ebene zurück.
In der Lokalzeitung stand bloss vermerkt: „Betriebsexplosion forderte ein Opfer.“ Nicht einmal sein Name wurde erwähnt.
Emil Baschnonga
7. 8. 1973, revidiert 23. 6. 2005
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