Esoterik: Ausbruch aus Konventionen
Von Walter Hess
Leben wir im Zeitalter der Vernunft oder in jenem der Unvernunft, des Glaubens, des Unglaubens oder des Aberglaubens? Was ist Vernunft? Was sollen wir glauben? Etwa das, was uns die Wissenschaft auftischt? Sollen wir die Schulmedizin als allein seligmachend anbeten oder zur Naturheilkunde Zuflucht nehmen? Ist der Stein der Weisen vielleicht im weiten esoterischen Feld vergraben?
Die Menschen streben nach Selbsterkenntnis auf den uralten Spuren des ciceronischen Nosce te ipsum. Sie wollen Selbstverwirklichung, und ihr Ziel ist oft auch die Selbstheilung. Sie möchten ihre eigene Wirklichkeit schaffen und suchen die dazu passenden Werkzeuge. Die Schulwissenschaft, die vielfach weniger im Dienste der Gesellschaft als vielmehr der Industrie und des Kommerzes agiert, hat kaum Passendes im Sortiment. Niemand zweifelt daran, dass es ausserhalb des akzeptierten Wissens, geboren aus der Beschränktheit des menschlichen Denkens, auch noch unbekannte Phänomene gibt, verborgenes Wissen also über die Gral-Legende hinaus. Das betrifft vor allem die Welt des Unsichtbaren, nicht Messbaren und des Todes.
Die Wissenschaft und ihre Defizite
Eine Kürzestbilanz der bisherigen schulwissenschaftlichen Resultate zeigt im technischen (auch im medizinaltechnischen) Bereich respektable Errungenschaften; aber das biologische Wissen (Naturkenntnisse, eingeschlossen das Wissen um die Gesundheit) strotzt vor Defiziten. Wenn das mechanische, cartesianische Weltbild auf die Natur übertragen wird, kommt es immer wieder zu katastrophalen Fehlentwicklungen; die Zukunft ist weder berechenbar noch beherrschbar. Die Folge der Maschinenmodelle ist eine zerschlissene, reparaturbedürftige Biosphäre, eine schwere Erkrankung des Planeten Erde; doch ausgerottete Pflanzen und Tiere (inklusive Nutzpflanzen und -tiere) können nicht mehr wiederhergestellt werden. Offensichtlich stimmte die hinter dem Siegeszug der abendländischen Zivilisation stehende Philosophie überhaupt nicht. Sie ist tödlich statt nachhaltig.
Vieles ist definitiv zerstört, auch kulturelle Errungenschaften. Leere. Ein blindes Vertrauen in die mit Scheuklappen ausgestattete Wissenschaft ist nicht gerechtfertigt – im Gegenteil. Der schulwissenschaftlich inszenierte Zivilisationsbetrieb brachte neben ökologischen Schäden auch viele tatsächliche und erfundene Krankheiten hervor; aber keine einzige davon konnte die Wissenschaft bewältigen, weil sie sich vom ursachenbezogenen Denken entfernt hat und sich auf Symptombehandlungen versteift, bei denen oft genug zusätzliche Schäden angerichtet werden. Die Kosten für die Krankheitsfolgen sind in hoch zivilisierten Ländern kaum noch aufzubringen. Das Vertrauen in die Forschung ist aus solchen Gründen schwer angeschlagen. Wir würden dringend eine weitsichtigere Wissenschaft brauchen, die sich gründlich und in aller Unabhängigkeit mit den Lebensfundamenten befasst statt sich zu immer neuen Manipulationen aufzuschwingen, bis in die Genstrukturen hinein.
Aber so schnell wird diese Forderung wohl nicht erfüllt werden. Viele Leute sehen sich gezwungen, sich die Grundlagen für ihre Lebensführung im alternativen Bereich zu besorgen, vielleicht bei den Alternativwissenschaften, die sich auch dem nicht Mess- und Zählbaren zuwenden und das Erfahrungswissen als gleichberechtigtes Faktum einbeziehen.
Hermeneutisches Verständnis
Man spricht in solchen Fällen von einem hermeneutischen Wissenschaftsverständnis (von hermeneuein = auslegen, interpretieren), das auf der Tradition des Naturverstehens durch Zeichendeutung basiert. Die Natur ist nach dieser Auffassung ein Buch, dessen Wörter und Sätze der Kundige auf der Grundlage seines Erfahrungswissens lesen und auslegen kann; dabei sind die Zusammenhänge zu beachten. Die Übergänge zu dem, was wir heute als Esoterik bezeichnen, sind fliessend, oder aber beides wird als identisch betrachtet. Jedenfalls hat sich das philosophische und Substanz gewordene Esoterikangebot enorm verbreitet; es ist auf dem von der etablierten Wissenschaften verwüsteten Feld zu einer neuen Blüte gelangt und eilt von einem Kreativitätsschub zum nächsten.
Was ist das: Esoterik?
Der Begriff Esoterik bezeichnet nach dem heutigen Sprachgebrauch die Grenzwissenschaften, deren Gehalt oft aus dem traditionellen, überlieferten Wissen besteht. Im alten Griechenland waren die Mysterienkulte der Inbegriff für Esoterik: Geheime Riten, die im Gegensatz zur vernunftbestimmten Aussenwelt standen und nur Eingeweihten zugänglich waren. Auch in vielen anderen Kulturen bildeten sich die unterschiedlichsten Geheimlehren heraus: von der Gnosis (in der Schau Gottes erfahrbare Welt des Übersinnlichen) zur mittelalterlichen Kabbala (Buchstaben- und Zahlendeutung), zur Alchimie und hin zur Theosophie (Sinn aller Dinge aus der mystischen Schau Gottes) und zum Okkultismus der Spiritisten. Auch die alten Heilmethoden (inkl. Naturheilkunde) können dazu gezählt werden – wie alles, das ausserhalb der Schulwissenschaftlichkeit steht: die Radiästhesie (Umgang mit Wünschelrute und Pendel), Astrologie, der Einbezug kosmischer Kräfte überhaupt, spirituelle Traditionen usw.
In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann man vom kommenden Wassermannzeitalter (New Age) zu sprechen, und es bildeten sich eine Vielzahl von alternativen Bewegungen aus. Man ist geneigt, auch die alternative (biologische) Landwirtschaft dazu zu zählen. Wer erkennt, dass das Leben nach den wissenschaftlichen Vorgaben (Industriekost, Chemiemedikamente, Bauchemikalien. Plastikkleider, -häuser und -welten, genormte Serienfabrikation, kulturelle Verflachung auf unterstem Niveau) von Zerfallserscheinungen begleitet ist, bricht aus solchen Massenware-Konventionen aus und sucht nach neuen, tragfähigeren Fundamenten für die Daseinsgestaltung.
Zum Beispiel BioMedica-Naturheiltage
Einen breiten Überblick über die aktuelle esoterische Lage bietet alljährlich die Messe „Lebenskraft“ (BioMedica-Naturheiltage) im Zürcher Kongresshaus, die 2003 vom 6. bis 9. März stattfand. Über 170 Aussteller boten ihre Kenntnisse aus den Gebieten des energetischen, biosynergetischen, geistigen und natürlichen Heilens, oft mit energiereichem, harmonisierendem Wasser, der Gesundheitserhaltung mit Einbezug des Wissens aus altasiatischen Kulturen usf. an; Zeremonien und Rituale von mexikanischen Indianern dienen der inneren Reinigung: Hilfe für die Menschen bei der endlosen Sinnsuche und beim Bestreben nach Höherentwicklung. Die Aussteller und Referenten trugen im milden Licht von Salzkristalllampen und im bezaubernden Duft von Räucherstäbchen zu neuen Bewusstseinbildungen und alternativen Weltanschauungen bei. Das Angebot an Gebrauchsesoterik wie Feng Shui, Schamanismus, Handlesen, Kartenlegen, Tarot, Pendeln, Regulieren schädigender Strahlungen (Biosynergetik), Pyramiden-Wirkungen usf. war gross und gefragt.
In der Stadt Zürich war gerade herrliches Frühlingswetter und Fasnacht (9. März), als ich die Ausstellung „Lebensausstellung 2003“ besuchte, an sich schlechte Voraussetzungen für eine beschauliche Innenansicht. Doch konnte man im Kongresshaus ein eigentliches Gedränge beobachten; ein offensichtlich interessiertes Publikum war auf der Suche nach neuen Erkenntnissen. Dabei ist eigentlich nichts so ungeeignet für eine Messe wie die Esoterik: denn hier geht es um vertiefte Erkenntnisse, um Bewusstsein, Bewusstseinsreisen, um den Einklang mit der Erde und dem Kosmos – um abstrakte Erscheinungen also. Vortragsveranstaltungen und Demonstrationen wie sinnlich-körperliche Klangerlebnisse und das Training der lebenswichtigen sinnlichen Wahrnehmung nahmen deshalb einen breiten Raum ein.
Eine Aufteilung des Angebots nach Sinn und Nonsens wäre Unsinn – und ein Ding der Unmöglichkeit obendrein. Denn wie bei der Heilkunst ist diejenige Methode richtig, die hilft und keine Schäden hinterlässt. Für jeden Menschen ist je nach Erkenntnisstand, persönlicher Struktur und Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas anderes zweckmässig. Und je umfangreicher das Angebot ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das individuell Richtige gefunden werden kann.
Auch hinsichtlich der Eigenschaften der modernen Menschen ist ein breites Spektrum vorhanden. Gleichwohl lebt der Grossteil von ihnen den konventionellen Lebensstil. Diese Menschen fühlen sich in der Masse wohl und haben das Gefühl, ein angepasstes Verhalten, das Vorgaben aus Medien und Werbung nachvollzieht und die grösste Verbreitung gefunden hat, könne so falsch auch wieder nicht sein. Hier sind die Auswirkungen der globalisierten Gesellschaft, in welche jedermann einbezogen ist, übermächtig. Andere stehen dem Zivilisationsbetrieb zwar skeptisch gegenüber, lehnen aber auch alles konsequent ab, was für sie nach „esoterischem Jahrmarkt“ aussieht. Sie sind in relativ engen Strukturen gefangen, haben ihre Persönlichkeitsentwicklung oft schon in jungen Jahren abgeschlossen, sind für Neues unzugänglich und finden bei Schwierigkeiten keinen Ausweg.
Wieder andere haben eine ungebremste Anfälligkeit für Philosophien, die ein vereinfachtes Leben und die Lösung aller Probleme versprechen. Die Gefahr liegt hier darin, dass sie bereit sind, einem überzeugend auftretenden Guru gedankenlos zu folgen, wobei dann die Gefahr von Abhängigkeit und Ausbeutung gegeben ist. Anderseits gibt es kraftvolle Persönlichkeiten, die neue Wege weisen und ihr Wirken als Dienst an der Gesellschaft verstehen und ihre Erkenntnisse zu günstigen Konditionen weitergeben. Die Esoterik kann also zu einem Religionsersatz werden und verhängnisvolle Wirkungen entfalten oder aber eine wertvolle Lebenshilfe sein; man muss ihr wie ein kritischer Konsument begegnen und überprüfen, was man für den Eigengebrauch mitnehmen kann. Glücklich sind jene starken Persönlichkeiten, die dank eines gesunden kritischen Bewusstseins und einer ausgeprägten Sensibilität neue Möglichkeiten zu erkennen und zum eigenen Vorteil zu nutzen vermögen, vor allem aus dem unermesslichen Schatz überlieferten Erfahrungswissens.
Alte Sorten auch im Lebensstil erhalten
Die private Organisation Pro Specie Rara setzt sich für die Erhaltung alter Nutzpflanzensorten und Nutztierrassen ein, sozusagen für die Lokalsorten. Ähnliche Bestrebungen wären auch hinsichtlich des überlieferten, regional zugeschnittenen Wissens, der lokalen Kultur im weitesten Sinne, dringend. Immer wenn z.B. Industrieprodukte überhand nehmen, verkümmern die entsprechenden Fähigkeiten: Die Wegwerfkleider bringen die Fähigkeiten des Nähens und Flickens zum Verschwinden, die Massenfabrikation schaltet das Handwerk aus, die Fertignahrung beseitigt das häusliche Kochen – dramatische, folgenschwere Vorgänge. Der Hauswirtschaftsunterricht an Schulen wird allmählich abgeschafft.
Im Verlaufe der Geschichte sind auf diese Weise unermessliche kulturelle Schätze von neueren Tendenzen überlagert worden, und ähnlich wie bei der Archäologie gibt es Bestrebungen, sie ans Tageslicht zu heben. Denn darin sind häufig Rezepte enthalten, um Fehlentwicklungen zu korrigieren. Ein Zurückblicken kann beim Voranschreiten manchmal bessere Resultate zeitigen als eine gedankenlose, forsche und risikobeladene Vorwärtsstrategie mit abenteuerlichem Charakter.
Alles ist fliessende Energie
Ob nützliche Erkenntnisse mit allgemeiner Gültigkeit aus dem eigenen oder einem fremden Kulturraum stammen, spielt keine Rolle; wichtig ist nur, dass sie den Menschen nach einer Phase des Niedergangs zu einer Aufwärtsentwicklung verhelfen, der Menschheitsgeschichte einen günstigen Dreh vermitteln. Dementsprechend hat der esoterische Markt seit je alle kulturellen Grenzen gesprengt. Eine bedeutende Rolle spielen dabei neben altgriechischen insbesondere altasiatische Weisheitslehren, die neue Dimensionen in unser Denken bringen können.
Dies sei an den uralten Erkenntnissen, wonach alles fliesst und in Bewegung (in steter Veränderung) ist, exemplifiziert. Die Griechen sprachen von Panta rhei, und die Chinesen betrachten alles als Energie. Die Geo- und Atomphysik hat solche Jahrtausende alten intuitiven Einsichten bestätigt: Die Erde dreht sich um sich selbst, wie allgemein bekannt ist. Doch auch alle die winzigen Materie-Teilchen rotieren ständig um ihre eigene Achse, beispielsweise die Atome, aber auch ihre Bausteine, etwa die Protonen, Neutronen, Elektronen. Zum Eigendrall der einzelnen Teilchen kommen noch die Bahndrehimpulse der jeweiligen Relativbewegungen dazu. Das bedeutet mit anderen Worten, dass auch ein Amboss, das Wasser, gasförmige Substanzen – überhaupt alles – in ständiger Bewegung ist.
Das Wissen vom Bewegungs- bzw. Energiefluss nutzten und nützen die Chinesen und andere asiatische Hochkulturen auch für die Lebensraumgestaltung, etwa in der Wohnharmonielehre Feng Shui als Teil der Gesundheitsphilosophie. Die Umgebungen, die Gebäude und ihre Einrichtung müssen so beschaffen sein, dass ein unbehinderter Energiefluss möglich ist und zum Gesundbrunnen für die darin wohnenden und arbeitenden Menschen wird – es geht um die angemessene Energiezufuhr und -entladung. Diese Betrachtungsweise wird unter anderem auch auf den menschlichen Körper übertragen. Die Krankheit ist dann eine Auswirkung des gestörten Energieflusses – und auch ein Hinweis auf solch eine Störung des so genannten Chi (Qi), der Lebensenergie.
Man wird auf dieser Basis nicht nach westlicher Manier daran gehen, die Symptome medikamentös zu unterdrücken – das Symptom wird hier mit der Störung verwechselt –, sondern Energieblockaden und Stresszonen zu erkennen und zu lösen sowie das freie Fliessen der Energien in den Meridianen und den Chakren (Energiezentren) zu regulieren, wie man das von der Akupunktur her kennt. Daraus ergeben sich ungeahnte diagnostische und therapeutische Ansätze. Sanfte äussere Reize können auch durch Massagetechniken herbeigeführt werden. Dabei werden selbstverständlich auch geistige und psychische Energien sowie von aussen wirkende Kräfte (auch die kosmischen) berücksichtigt und ordnungstherapeutisch reguliert. Dann wird sich auch die Gesundheit wieder herstellen, und der Alterungsprozess kann verlangsamt werden; aufhalten lässt er sich nicht.
Wenn alles Energie und in ständiger Rotation – ein pulsierendes Energiefeld also – ist, leuchtet auch ein, dass alles, auch der Mensch, von einem Bioelektro-Magnetismus begleitet ist, der zwar mit wissenschaftlichen Methoden messbar ist, aber im Abendland noch kaum für therapeutische Ansätze genutzt wird. Auch hier sind ungeahnte Chancen verborgen.
Scharlatanerie-Aspekte
Ein Scharlatan ist ein Mensch, der bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten vortäuscht, um andere hinters Licht zu führen. Verführungen und Betrügereien gibt es überall. Abgesehen davon sei die Frage erlaubt, wo denn der Scharlatanerie-Begriff mehr angebracht ist: Bei den Schul- oder bei den so genannten Alternativwissenschaften? Es gibt viele Wahrheiten. Aber es könnte durchaus sein, dass bewährtes, im grösseren Zusammenhang gesammeltes Erfahrungswissen den aus einer eingeengten mechanistischen Vernunft entsprungenen Erkenntnissen im Alltagsgebrauch überlegen ist.
Das menschliche Denken und Handeln ist immer von Fehlern begleitet. Doch der Spagat zwischen den verschiedenen Wahrheiten wird jenem eher gelingen, der den Mut aufbringt, sich seines eigenen Verstandes grosszügig zu bedienen und kritisch zu werten.
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