Die unvergesslichen Goldkehlen
Liebesbrief eines Liestaler Gymnasiasten an eine „Lerche“ des finnischen Mädchenchors „Kiimingin Kiurut“ („Die Lerchen aus Kiiminki“)
Meine liebe Lerche,
jetzt sind es schon zwei Tage her, seit Du aus Liestal abgeschwirrt bist, und ich weiss nicht einmal, ob Dein Heimflug, will sagen Deine Heimfahrt mit dem Bus in den finnischen Norden gut gegangen ist. Diesem Chauffeur aus Helsinki hab’ ich nicht so recht über den Weg getraut . . .
Ja, nun seid Ihr alle wieder weggeflogen, Ihr Singvögel aus Kiiminki, und Liestal ist seither ein leeres, ödes Nest. Vor einer Woche war das hier noch ein trillerndes, schwirrendes Paradies, wo ich fünf Tage lang high war (jetzt bin ich nur noch down). Gleich als Ihr aus dem Bus ausgestiegen seid, hab’ ich Dich gesehen und gedacht: Die singt Sopran. Und dann kam Eure Chorprobe in unserer Gymi-Aula. Sowas hatte ich noch nie gehört, ich bin fast ausgeflippt. Und es stimmt: Du bist Sopranistin – und was für eine! Es gibt nur ein Wort dafür: göttlich, GÖTTIN-LICH müsste ich eigentlich sagen. Auch unsere Chorleiterin war ganz weg. Für einen Mädchenchor eine erstaunliche Leistung, war ihr Urteil. Und sie ist wirklich kritisch!
Dann Euer Vortrag in unserer Stadtkirche! Nach dem Lerchenlied riefen wir „Bravo!“, obwohl auf dem Programm stand, das Publikum sei gebeten, zwischen den einzelnen Gesangsnummern nicht zu klatschen. Ha, wir haben geklatscht, und wie! Als dann am Schluss dieses Jugendchor-Konzerts unser gemischter Gymnasiumchor drankam, hätte ich am liebsten nicht mitgesungen. Unser Repertoire kam mir so fad vor trotz des Spirituals, das glaub’ ich nicht schlecht tönt. Aber gegen Eure Superlieder aus Finnland! ... Und gegen Eure „glockenreinen Stimmen“, wie der Journalist in der „Basler Zeitung“ schrieb! Ich habe dafür noch eine andere Bezeichnung erfunden: Goldkehlen – wie findest Du das?
Sie fehlt mir, Deine Goldkehle, meine liebste finnische Lerche! Was mach’ ich jetzt allein in diesem bleigrauen Liestal? Singen mag ich auch nicht mehr, ich hab’ unserer Chorleiterin meinen Austritt angekündigt, aber sie sagte, sie habe doch zu wenig Tenöre und könne meine Stimme nicht entbehren. – „Stimme“ nennt sie dieses armselige Gekrächze . . .
Ja, meine liebe Lerche, da sitze ich also und denke an Dich. An den letzten Konzertabend in der Basler Mustermesse. Euer Tanzlied! Da habt Ihr Euch selber übertroffen, ehrlich ... Absolute first class war das, wie in einem Musical. Und nachher der rasende Beifall des Publikums! – Dann, als alle Chöre gesungen hatten und auch die doofen Interviews vorbei waren, die Disco ... Nein, ich kann nicht darüber schreiben, Du weisst ja selber, wie es war. Hab’ ich es Dir eigentlich gesagt, dass Du fast noch besser tanzst als singst? Wenn Besseres überhaupt möglich ist.
Auch das ist vorbei – vorbei Eure Lieder, wie Euer blaues Wunder, wie unsere Spaziergänge abends bei dem zum Glück milden Maiwetter. Klar, hier ist es nicht so schön wie in den Sommernächten bei Euch. Bei uns gibt es keine Extreme. Keine extrem langen Nächte im Sommer und keine extrem kurzen im Winter. Nur Du warst ein Extrem in Liestal. Aber jetzt – nur noch der geistkillende Einheitsbrei.
Ich muss mir unbedingt etwas einfallen lassen . . . Wie wäre das: Ich spare wie vergiftet mein Taschengeld, 10 Franken in der Woche, das macht 520 Franken in einem Jahr. Mit einer dieser Billigreisen kann ich vielleicht nächsten Sommer nach Kiiminki fahren. Oder: Eben kommt mir eine noch bessere Idee. Ich bringe unserer Chorleiterin bei, dass wir 1996 unbedingt eine Konzerttournée in Finnland machen müssen. Was meinst Du dazu? In diesem Fall muss ich doch weitersingen, wir müssen natürlich viel besser werden als bisher. Aber für Dich singen, das bringe ich schon fertig . . .
Ab heute denke ich nur noch daran – an den strahlenden Norden, und der Baselbieter Staub hebt sich ein wenig – also bis dann, meine liebe Lerche!
Dein Rabe Stephan
Hinweis
Dieser fingierte Liebesbrief von Lislott Pfaff entstand 1995, im Anschluss ans „Europäische Jugendchor-Festvial Basel.“
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