Der Dorfpfarrer
Vor 50 Jahren war der junge Theologe auf dem einzigen Saumpfad nach Glugin gekommen, um die verwaiste Pfarre zu besetzen. Seiner Lungen wegen wurde er in diesem hoch gelegenen Bergdorf eingesetzt – mit seinem Verstand hätte er es anderswo zum Kirchengewaltigen gebracht.
Nicht mit geschliffener Dialektik hatte er sich das Zutrauen der an sich verschlossenen Bergbauern errungen, sondern mit geharnischter Güte, die – ausser am Sonntag – mit Worten geizte. Kuh von Geiss wusste er wohl zu unterscheiden, aber ernst genommen wurde er erst, als er eines Tages beiläufig den Carunz fragen konnte: „Wann kalbt denn die Martha?“ Er auch wusste, wie viel Milch der Walser täglich in die Käserei karrt, und er das Emd mit Kennermiene durch seine Finger gleiten liess.
Trotzdem trieb mehr Gewohnheit als Gottesfurcht die Dörfler am Sonntag in die schartigen Bänke der kalkverputzten Kirche. Die Kirchenbänke benutzten sie gerne zu einem Nickerchen. Dies glaubten sie als ihr Vorrecht ausbedungen zu haben. Der Amtsvorgänger hatte es geduldet. Des neuen Pfarrers erst verblüffter, dann vom sachten allmählich zum heiligen Zorn sich ballender Ausdruck hinderte keine schläfrig blinzelnden Augenlider schon während der ersten Hälfte seiner Antrittsrede zuzufallen. Nur die Frauen, in schwarze Kopftücher gehüllt, stiessen ab und zu mit kantigen Ellbögen zwischen die Rippen ihrer Männer, wollte das Schnarchen gar zu laut werden.
Eine zweite Überraschung sollte den Neuling noch ärger verdriessen. Sie begann mit der neunten Minute seiner Predigt. Wie konnte er, Ahnungsloser, um ihr Gewohnheitsrecht wissen, das seit jeher die Dauer der Predigten auf 10 Minuten begrenzte? Einer nach dem andern erwachte kurz vor Ablauf dieser Spanne. Einer nach dem andern zog sein weites Schnupftuch hervor, der Krugwirt allen voran, und alle schienen die Arbeit einer Woche geräuschvoll herauszuschnäuzen. Auch Taschenuhren wurden hervorgeklaubt und bedeutungsvoll vor die Augen gehalten.
Was blieb dem Pfarrer anderes übrig als seinen Gedankenstrauss fahren zu lassen und eilig den Segen zu spenden. Wie eine Siegeshymne scholl der Schlusschoral aus den Kehlen. An diesem Sonntag hatte des Geistlichen Stock manche den Weg ins Pfarrhaus säumende Distel und Schafsgarbe geköpft.
Seit diesem Tag begann zwischen ihm und seiner Gemeinde ein hartes Ringen um Minuten-Zugeständnisse. Einen dreiwöchigen Waffenstillstand räumte er sich ein, um seine schwächliche Stimme zu stärken in Gottes luftigen Höhen. Bald konnte er schallend dem Hirten seinen Morgengruss entbieten und gar Fragen und Antworten dem einsamen Mäher am Berghang gegenüber wie Bälle zuspielen. Der schlaueste Bauer hatte den wahren Grund bald erraten. „Überschreien will er uns!“ Dieser Satz machte mit dem Krug Most die Runde. Bis spät in die Nacht hatte der Pfarrer in seiner Sonntagspredigt des Teufels Pech und Schwefel hineingeknetet.
Diesen Kuchen wollte er ihnen morgen randheiss und laut auftischen. Der Morgen kam und mit ihm die Hitze eines Spätsommertages. Ihn deuchte, die Männer seien samt und sonders verschanzt und getarnt hinter scheinheiliger, träg-wachsamer Miene. Um diesen und jenen bartverhangenen Mund wetterleuchtete sogar ein schwer deutbares Grinsen durchbrechender Vorfreude, die den üblichen, mürrischen Ausdruck ins Verwegen-Räuberische steigerte. Trotzdem begann er unverzagt mit viel Pathos und Verdammnis Wort an Wort zu flechten und glaubte schon, über die Zehnminutenklippe gekommen zu sein, als des Krugwirts rotes Taschentuch deutlich und gebieterisch aufleuchtete und Signal gab. Überwältigt und bitterböse musste er den Choral anstimmen lassen. Das wilde Frohlocken des Gemeindegesanges musste er über sich ergehen lassen, wie Wellen über die Planken eines Schiffbrüchigen. Manch anderer an seiner Stelle hätte sich gebeugt und gefügt, doch noch weniger nachzugeben gewillt, und mit rotem Kopf ging er nach der Messe in die Sakristei.
Es herbstete schon, und das Vieh wurde von den Alpen heimgetrieben, als er einige Legenden aus seiner Studentenzeit zusammengefabelt hatte, was ihm Schweiss genug kostete, denn als versponnener Theologieschüler konnte er nicht mit viel Erlebtem aufwarten. Eingestreut und als Beispiele getarnt, dürften sie über bäuerlichen Starrsinn siegen, so hoffte er – doch umsonst. Wohl lauschte gebannt und wach die Gemeinde seiner Fabel, liess ihn ruhig enden, doch beim wohl ausgeklügelten Übergang ins Abstrakte rochen sie die Lunte. Wären nicht so viel Stolz und Eigenliebe im Herzen des Predigers gewesen, hätte er sich manche bittere Stunde ersparen und am Sonnabend den Docht seiner Studierlampe früher abdrehen können.
Weiter talabwärts gedieh trefflich das Nachbardorf Almadarein, seit Geometer begonnen hatten, das Gemeindeland für den Bau eines Kraftwerks zu vermessen. Mit neuem Neid begann eine alte Fehde aufzuleben, einiger Alpweiden wegen. Jedes Frühjahr, so wollte es ein alter Brauch, trafen sich die Hirtenjungen beider Orte, um sich über das Weidrecht eines Jahres zu prügeln. Den von der Entwicklung übergangenen Gluginern hatte man nicht einmal eine geteerte Strasse zugestanden.
Eines Tages wurde dem Pfarrer überraschend das Amt in Almadarein angetragen. Die Menge neuer Zuwanderer sei eine zu grosse Belastung für den greisen Bruder, stand im versiegelten Brief geschrieben. Zögernd hatte er das Angebot ausgeschlagen, begründend, die Gemeinde sei ihm so ans Herzen gewachsen, dass ihm die Annahme wie ein Verrat ankäme. Seine siegreiche Sonntagspredigt hatte ihn zu diesem Entschluss bewogen. Er sprach damals, wie es heute die Einheimischen gern dem neugierigen Fremdling weiter berichteten, über des Apostels Paulus dreimalige Verleugnung Christi. Während der kritischen neunten Minute fand er mit kühnem Sprung durch Raum und Zeit den Anschluss ans Almadareiner Kraftwerk, das einerseits Freude, anderseits aber stärksten Verdruss beschere. Salbungsvoll flocht er ein: „Eben diese Gemeinde sucht einen neuen Hirten – erfolglos bis jetzt.“ Flüsternd fügte er verhalten hinzu: „Der Herr hat Petrus verziehen, ihm sogar den Himmelsschlüssel anvertraut – würde Er nicht auch mit gleicher Milde einem Dorfgeistlichen verzeihen, der sich seiner undankbaren Gemeinde entrate, eine Gemeinde, die ihm die Worte wie das Gehalt eines Beamten zumessen will. So lasset uns beten für unsere Brudergemeinde, damit sie einen würdigen Hirten finde“, schloss er seine halbstündige Rede.
Kein einziges Räuspern ward gehört, weder an jenem noch folgenden Sonntagen. Später versuchte der Krugwirt noch ein letztes Mal seine Niederlage auszuwetzen, wagte, sein rotes Schnupftuch zu missbrauchen. Doch Engel waren dem Pfarrer mit Worten beigestanden, die seinen Sieg für immer und unantastbar in den Schrein stellten, und auch in die Geschichte: „Drängte es euch so sehr nach köstlichem Wein, so würde ich nicht zögern, euch den Segen jetzt schon zu geben, doch Nächstenliebe gebietet mir, eure Mägen noch ein Weilchen vor dem sauren Most im Krug zu verschonen.“
Emil Baschnonga
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