Was ist das denn nun, dieses Paris?
Ein Meer aus Stein, nachts von elektrischen Lichtadern durchpulst?
Eine Ansammlung von Menschen jeder Couleur, jeder Sprache und jeder Kultur, die sich aus den Häusern in die Strassen ergiessen, zu Fuss und auf Rädern, vom Untergrund angesaugt und wieder ausgespien werden?
Eine Kakophonie aus Motorenlärm, Menschenstimmen und Lautsprechergeplärr, manchmal unterbrochen vom Brummen eines hoch oben vorbeiziehenden Flugzeugs?
Ist es eine Stadt der Touristen, die wie Heuschreckenschwärme über sie herfallen, die Butte Monmartre, das Quartier Latin, die Ile de la Cité überschwemmen, knipsend, schwatzend und Hamburger schmatzend umherziehen und Abfallberge hinterlassen?
Oder ist es schliesslich doch die Stadt der Pariser und Pariserinnen, die morgens zur Métro hasten, um sich irgendwo im Gezweig des riesengrossen Baumes ihrer Stadt in einem Büro, einem Laden oder an einer sonstigen Arbeitsstelle niederzulassen, und am Feierabend, au zinc (an der Theke) ihres Arbeitsquartiers oder Wohnquartiers in der banlieue stehend, noch ein bière rallongée genehmigen, das Glas in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, mit dem Wirt oder untereinander Gedankenaustausch pflegen und Sprüche machen, lachen und auf die langen Sommerferien warten, die sie irgendwo in ländlicher Idylle verbringen werden, ohne Stadtlärm und -schmutz, ohne überfüllte Métrozüge und ohne Arbeitsstress? (In einem Bistrot gelesen: "Si l'alcohol vous dérange au travail, supprimez le travail!." (Wenn der Alkohol Sie bei der Arbeit stört, so schaffen Sie die Arbeit ab!).
Ist es die Stadt der tausend Kamine, die metallisch glänzend oder ziegelrot aus den grauen Dächern herausragen, der tausend schmiedeisernen Balkone, auf denen man nie einen Menschen sieht, aber welche die Strassenfluchten so menschlich erscheinen lassen?
Oder die Stadt der tausend bars, cafés, brasseries und bistrots, wo man auch als Frau allein an der Bar stehen kann, ohne sich deplatziert vorzukommen, und dabei das echte vie parisienne beobachten kann? Als ich ein Café verlasse, verabschiedet sich der Kellner: „Soyez sage!“ („Seien Sie brav!“) – Ich: „ A mon âge, je suis bien forcée d'être sage.“ (In meinem Alter bleibt mir keine andere Wahl.) – Er lacht, und ich mische mich wieder unter das Gewühl des Boulevard St-Michel.
Ist es vielleicht die Stadt der exotischen Restaurants, in denen man sich ausgiebig dem Genuss von indischen, türkischen, italienischen, spanischen, griechischen Menüs hingibt, und schliesslich der französischen Gaststätten, welche die Spezialitäten aus der Gascogne, der Provence, der Bretagne servieren? Eigentliche Pariser Mahlzeiten hingegen gibt es nicht in Paris, der Metropole, wo die ganze Welt sich trifft.
Oder ist es die Stadt der tausend Hotels aller Preiskategorien mit robinets (Wasserhahnen der Lavabos), die kaum über den hinteren Lavaborand vorragen, so dass man nur mit Mühe die Hände waschen oder die Zähne putzen kann?
Als bescheidene Touristin wohne ich in einem kleinen Hotel im Quartier Montmartre, in einem ruhigen Zimmer mit Fenster gegen den Hof – ruhig, bis in den Zimmern nebenan „les Russes“ einziehen – eine Invasion von 4 Gästen, die ihre Zeit Tag und Nacht mit Trinken, Schreien und Türeschmettern verbringen. Die machine (computergestützte Registrierung der Telefongespräche) an der Réception macht manchmal Fehler, aber ich muss trotzdem zahlen, was dieses rätselhafte Gerät anzeigt. Wahrscheinlich habe ich noch die Telefongespräche meiner exotischen Zimmernachbarn berappt.
Das Personal dieses (und wohl noch vieler anderer) Hotels besteht grösstenteils aus Gelegenheitsarbeitern, oft Algeriern, die keine entsprechende Ausbildung haben. Beispiel: der 20-jährige Sohn der (algerischen) Zimmerfrau, ohne Beruf, macht Aushilfe an der Réception (sicher für einen Hungerlohn). Die junge Dalia – ebenfalls an der Réception tätig – hat keine Ahnung von Abrechnungen, die assistante directrice ein bisschen mehr, ist aber ebenfalls verunsichert. Fazit: Wer Glück hat, bezahlt zu wenig, wer Pech hat, zuviel.
Ist es die Stadt, die sich stundenlang zu Fuss entdecken lässt, ohne je zu langweilen, wo der Parisien mit seinem Hund die Quartierstrasse entlangspaziert oder seinen Vierbeiner ans Ufer der Seine ausführt und dabei mit einem batteriebetriebenen Rasierapparat die Bartstoppeln abschabt (auf der noblen Ile St-Louis gesehen)?
Oder ist es die Stadt der tausend Liebespaare: der jungen und alten, der schönen und weniger schönen, der leidenschaftlich und gelangweilt Verliebten?
Ist es die Stadt des Mittelalters, wo sich das architektonische Wunder der Notre Dame de Paris in der Seine spiegelt mit seinen steinernen Chimären, Mischwesen aus Schaf und Ziege, aus Engel und Teufel, welche den gentechnisch hergestellten Geschöpfen des 21. Jahrhunderts als Vorbilder zu dienen scheinen, wobei man sich fragt, ob uns das Mittelalter einholt oder ob wir uns ins Mittelalter zurückversetzen?
Ist es die Stadt der menschlichen Tragödien?
In der Métro am 1. Januar, mittags: Junger Mann drangsaliert junge Frau, die sehr verängstigt zu sein scheint. Ich mische mich ein, drohe dem Rohling mit der police, die natürlich mit Abwesenheit glänzt. Die Frau: «Oui oui, appelez la police s'il vous plaît!» (Ja, bitte rufen Sie die Polizei!) Ich spreche einen Passanten an, der zuschaut, aber nichts unternimmt. Seine Reaktion: „Ils sont mariés?" (Sind sie verheiratet?) Dann gelingt es der Frau, sich von dem doch etwas verunsicherten Mann zu lösen, sie verschwindet in der Menge der Métrobenutzer. Drama der Grossstadt ...
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Paris ist all das und mehr: die Stadt der endlosen Boulevards, denen man entlanggeht, ohne sich je zu langweilen, weil man dabei das Leben wie in einem Bilderbuch an sich vorbeiziehen sieht, das Leben in allen seinen Facetten: Reichtum und Armut, Orient und Okzident, Jugend, die unbekümmert geniesst, mit exzentrischem Chic gekleidet, und Alter, das verbittert, gebeugt, verhärmt daherkommt, mit einem verblichenen Kopftuch bedeckt, in einen ausgetragenen Mantel gehüllt.
Es ist die Stadt der Häuser, die wie beidseitig schräg angeschnittene Käsebitzen hoch in Strassengabelungen hineinragen, während unten der Verkehr vorbeibraust, ungerührt ob dieser pittoresken Architektur.
Es ist eine Stadt, wo man einiges an „Münz“ braucht, um als Tourist auch nur einen Tag zu überleben, es sei denn, man lässt sich auf einem Boulevard oder im Labyrinth der Métro auf einer zerschlissenen Decke nieder und streckt der vorbeieilenden Menge bittend die Hand entgegen. So wieder und wieder gesehen – meist sind es ältere bis alte Araber/Algerier (wobei die vielleicht mehr Klotz haben als ich).
Und es ist vor allem eine Stadt der sprachlichen Wohltat:
Hier gibt es kein breakfast, nur ein petit déjeuner,
keine tearooms, nur salons de thé,
keine pubs, nur brasseries, cafés oder bistrots,
keine cocktail parties, nur réceptions.
Kurz, Paris ist eine Stadt, die mehr als manche andere eine Stadt des „alten Europa“ geblieben ist. Und die vielleicht gerade deshalb auf die Bewohner aus der Neuen Welt eine grosse Anziehungskraft ausübt.
Lislott Pfaff
(Paris, Ende 2000/Anfang 2001)
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