Stolpernde Gedanken
Der Erwachsene setzt ein gewisses Vertrauen in den reibungsfreien Gebrauch seiner Gehwerkzeuge. Das Stolpern verstimmt ihn deshalb sehr, zumal einzig der aufrechte Gang etwas bezwingend Nobles an sich hat, dessen jede andere Säugetier-Spezies entbehrt von plumpen Versuchen einiger Affen abgesehen. Es liegt an ihm, dieses Erbe des Fortschritts zu wahren. Was noch ärgerlicher ist: Wer strauchelt, dessen Stolz strauchelt eine Nasenlänge voran, da immer einige anwesende Gaffer schon gar nicht versuchen, ihr Grinsen zu meistern.
Wie beurteilt des Weisen Erkenntnis dieses Missgeschick? Voreilig glauben wir willkürlich in unseren Weg gestellt, was vielleicht schon seit Jahren zufällig dort lag, oder sich allmählich zur Bodenunebenheit formte und gar schon eine Geschichte von Schuhsohlen auf dem Buckel hat. Hätte die wesenslose Materie einen Gedanken, so hiesse der: Einmal wird (wieder) einer kommen ...
Und tatsächlich, der kommt, so absichtsvoll wie unachtsam seines Weges und dramatischer Höhepunkt der Kampf der Zeiten wiederholt sich hier im Kleinen: Mensch gegen Materie. Da helfen keine Beziehungen, kein Latein, sondern nur die geweiteten Arme rechtzeitig hochgeworfen. Dieser Mensch gleicht dann einem aufgescheucht flatternden Huhn.
Eigenartig, wie einmütig sich die Miene aller Betroffenen gleicht, spielt sich der Vorfall in aller Öffentlichkeit ab: Fangen sie sich im letzten Augenblick à la poule auf, oder gewinnen sie nach dem Sturz wieder die Senkrechte, gehen sie weiter, als wäre nichts geschehen nur etwas beflissener. Der Volksmund sagt: Er zieht den Blinden ... und dies trotz eines zornigen Impulses im Fussgelenk. Mag sein, dass sich das Opfer rasch heimlich umschaut nach der Kleinigkeit, die es auf seine Grösse abgesehen hat, und Erstaunen breitet sich auf seinem Gesicht wie vergossene Milch aus. Glaubt er sich dagegen allein, kommt eine urtümliche Reaktion zum Durchbruch. Unbemerkt konnte ich einmal einem älteren Herrn zuschauen, wie er sich ergrimmt umwandte, sportlich aufzog und den Stein des Anstosses über den nahen Gartenhag kickte, wo das Übel wie lebenswahr in einem Rosenbeet landete. Der Denkzettel war einseitig: Obwohl besänftigt, humpelte er auf seinem Stock gestützt weiter.
Sigmund Freud hat auch zu diesem Thema einige aufschlussreiche Beiträge in seine „Psychopathologie des Alltagslebens“ aufgenommen. Der Geschulte erkennt im Straucheln etwas Unbewusstes, nicht nur ein blosses Versagen der Gliedmassen, und sucht berechtigt nach einer stichhaltigen Deutung, zuerst einmal mit dem bekannten „cherchez la femme“. Meistens braucht er dann nicht weiter zu suchen. In der Mehrzahl der Fälle findet sich ein solches Wesen mit dem Beiwort anziehend im unmittelbaren Umkreis. Rührt wohl daher der leicht anrüchige Ausdruck „plattfallen“?
Das Stolpern als Handregel bedingt einen mittleren Grad von Geistesabwesenheit. Nicht selten stolpert der Betroffene zuerst über seinen eigenen Gedanken, bevor es seine Beine noch deutlicher versinnbildlichen. Folglich sollten wir dem Stein des Anstosses als Warner und Wegweiser dankbar sein. Wer das nicht tut, geht bald auf allen Vieren weiter.
Emil Baschnonga
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