Tinte, Handschweiss, Dachlandschaften
Impressionen von Emil Baschnonga
Oft ist mir Tinte an den Fingerbeeren haften geblieben. Der Abwart hatte die Tintenfässchen aus Blei überfüllt. Tief rieb ich sie mir in die Hautrillen, wie ich – über einer „Schriftlichen“ gebeugt – schwitzte. Die Pausenglocke schrillte mitten im Satz. „Federn weglegen“, wiederholte der Lehrer und begann, die Aufsätze einzusammeln. Zu hastig hämmerte meine Faust aufs Fliesspapier. Die letzten 2 Zeilen waren zum Wortbrei verdickt.
Handschweiss und Schultinte: der Geruch ist mir in der Nase haften geblieben. So vertraut ist mir der Geruch noch, dass ich beim besten Willen nicht sagen kann, ob ich ihn mag oder nicht.
Eklig aber war der Tintensatz. Nebst Tintenrückständen setzte er sich aus Brosamen und „Böggen“ zusammen; letztere so heimlich wie beflissen hinter der Rückendeckung des Vordermanns aus der Nase geklaubt und ins Tintenfass gespickt.
Das und Papierfasern kamen meiner Stahlfeder in die Quere. Immer wieder zog die Feder Vorhänge durch die Buchstaben. Diese Wortschleppen merkte der Lehrer als Schlappen rot an. Aber das alles liegt so weit zurück, wie die Hulligerschrift. Unauslöschlich!
(1979)
Dachlandschaften
Ich habe viel für Dachlandschaften übrig. Für mich sind sie das Reich der Poeten, Dienstboten und armen Leuten geblieben. Der mühsame Aufstieg zum Dachstock, über enge, steile Treppen, ist heute zum Privileg geworden c und oft dank Lift erleichtert. Er führt zur Attikawohnung. Doppelverglaste Fenster sind in der Dachschräge eingelassen. Der Einfallsfreude der Sonne ist keine Grenze gesetzt.
Der Regen mag noch so mächtig auf den Ziegeln trommeln und klopfen. Unter ihnen sitze ich trocken. Auch zieht es nicht mehr, wenn draussen der Wind Orgel spielt.
Einst schlug das Dächermeer hohe Giebelwellen. Dann kamen die Städteplaner mit Richtlinien. Die Wellen verflachten. Die Leute leben in Einmachgläser wohnquartiert. Hochhäuser verschlucken Aussichten. Bloss die Lanzenspitze eines Kirchturms sticht da und dort noch durch.
Wie Bronze gewinnen Ziegeldächer ihre Patina: Grünspan aus Moos und Flechten, gebeitzt vom Vogeldreck. Das Gewitter frischt die Farben auf. Die Dachlandschaft wird zum Himmelsgarten. Eine flugmüde Hummel pumpt nach Luft. Durchnässt riecht frühmorgens der gebrannte Ton wie Tang.
Dächer ohne Kamine sind mir ein Greuel. Vom 12. Stock eines Bürohochhauses in Croydon (Londoner Vorort) blicke ich von meinem Arbeitsplatz tief und sehe, dass Neubauten diese Dachreiter eingebüsst haben. Dazwischen überdauern einige Häuser aus der viktorianischen Zeit und warten dem Himmel mit trutzigen Backsteinkaminen auf. Ein Dach trägt ihrer 4. Katzen schätzen sie als Windbrecher, Spatzen als Nistplätze. Beiden ist recht, dass sie nicht mehr schloten. Der Kaminfeger kommt nur noch als Neujahrskarte ins Haus.
Die gemütlichsten Dachbehausungen habe ich in Paris und London gesichtet von der U-Bahn oder Métro aus , dann wenn der Zug, ausserhalb der Stadtkerne, den Tunnel verlässt und auf Bahndämmen oder über Viadukte fährt. Ich werfe Lazarusblicke auf versteckte Dachparadiese. Eine weissgestrichene Holztreppe führt etwa unverhofft vom Küchenfenster aufs Vordach. Hinter Topfpflanzen macht sich jemand im Liegestuhl breit.
Es muss seinen triftigen urgeschichtlichen Grund haben, weshalb der Mensch sich am sichersten und geborgensten auf Baumhöhe fühlt. Die Baumkrone bestimmt somit die Idealhöhe des Dachaufbaus. Dort wird die Welt wieder heil in windstiller Nacht, wenn selbst die Blätter der Pappel neben meinem Schlafzimmerfenster einander nichts mehr zu sagen haben.
Zu meinen schönsten Dacherlebnissen gehört die Traufe mit Schluckauf. Glucksend speit sie Regenwasser über die Ziegel. Das sieht so aus, als gleite ein Endlosschleier über den Schuppenpanzer einer Riesenechse.
Wo ist mein Buch so wunderbar mit Dachillustrationen von Jean Lébédeff illustriert hingeraten? Es wurde unter dem Titel „Deux Hommes“ von Georges Duhamel 1933 von „Le Livre de Demain“ veröffentlicht. Arthème Fayard & Cie , Paris, war der Verleger. Ich werde es schon wieder finden. Inzwischen bin ich Lébédeff dankbar für meine Dachlandschaften.
(1979)
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