Der Beagle
Er kam mit einem der Frachttransporte aus England im Flughafen der berühmten Chemiestadt an, braunweiss gefleckt, schicksalsergeben, mit samtbraunen Augen. Sie hatten ihm keinen Namen gegeben. Er war einfach ein Beagle. Einer der Tausende von Beagles, die in Drahtgitterkäfigen regelmässig herübergeflogen wurden.
Reglos und ungerührt lag er in seinem Transportkäfig in einer Ecke, denn er wusste, was er seiner Abstammung schuldig war. Obwohl die Zeit lange zurücklag, da seine Vorfahren vor den galoppierenden Pferden her durch die sanfte englische Hügellandschaft geprescht waren, dämmerte in seinem Hundehirn immer noch eine Ahnung von solchen freiheitlichen Freuden. Deshalb blieb er stolz liegen, wenn sich ein Flughafenangestellter seinem Käfig näherte, und sprang nicht wie seine Reisegefährten jaulend an den Gitterwänden hoch. Er wusste wirklich, was er seiner aristokratischen Abstammung schuldig war.
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Anfänglich verhielt er sich auch noch ruhig, als er, aus der Narkose erwachend, allein in einer Boxe lag. Nur seine schmale Schnauze streckte er schnüffelnd durch das Gitter, das ihn erneut von der Aussenwelt trennte. Aber diese Welt roch so ungewohnt, so fremd, so erschreckend, dass die Angst kalt durch seinen Körper kroch und er langsam die Rute mit dem weissen Spitz zwischen die Hinterbeine einzog. Er witterte einen ganz neuen, einen furchterregenden Geruch, und sein Hundeinstinkt sagte ihm, dass es ein feindlicher Geruch war. Seine Angst vor dem Unbekannten wurde immer grösser, obwohl er nicht wusste, dass dieser Geruch aus Desinfektionsmitteln und Medikamenten, aus Spritzen und Operationsmaterial stammte, dass es der Geruch eines Tierversuchslabors war.
Als die Wirkung der Narkose allmählich nachliess, begann ihn noch etwas anderes zu beunruhigen ein Schmerz. Ein Schmerz, der immer stärker in seiner Brust bohrte, mochte er dort mit der Zunge übers Fell fahren, soviel er wollte. der Schmerz blieb, tief innen. Der namenlose Beagle stand auf, ging die 2 Schritte, die ihm seine Boxe erlaubte, hin und her, dann legte er sich wieder hin, schleckte, winselte...
Auch das konnte er nicht wissen, dass ihm unter Narkose eine aufblasbare Gummimanschette um ein Herzkranzgefäss sowie Elektroden in den Herzmuskel eingepflanzt worden waren. Er wusste es nicht, der namenlose Beagle. Der Tierpfleger, der ihm die Futterwürfel und das Wasser brachte, kontrollierte nur die Operationswunde, den Schmerz sah er nicht.
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Und eines Tages kam der Mann im weissen Mantel. Sein Geruch war nicht gut. Vor seinem gleichgültigen Blick zog sich der Beagle, so weit er konnte, in eine Ecke zurück. Dann wechselte der Mann ein paar Worte mit dem Tierpfleger, worauf dieser die Boxentür öffnete und den Hund am Nackenfell herauszog. Das Tier wehrte sich nicht, knurrte nicht einmal. Es hatte bereits gelernt, dass es machtlos war. Bald darauf lag der namenlose Beagle im sauber getäfelten Versuchslabor, auf einen Operationstisch geschnallt. Er konnte sich nicht mehr rühren, verfolgte aber mit seinen samtbraunen Hundeaugen jede Bewegung des Mannes im weissen Mantel und der ebenso weiss angezogenen Frau, die neben ihm standen. „Geben Sie ihm eine Valiuminjektion“, ordnete der Kreislaufforscher an. Die Laborantin stach routiniert, dann holte sie einen Katheter im Instrumentenschrank. Geschickt führte sie ihn in die Oberschenkelarterie des Hundes ein. Es war alles bewährte Routine. Der Beagle zuckte zusammen, jaulte kurz auf, dann war er wieder stil l. Die Laborantin inspizierte ihre sorgfältig lackierten Fingernägel, während der Forscher das Pumpgerät an den Schlauch in der Brust und die EKG-Apparatur an die Elektroden anschloss.
5 Minuten später lag der Beagle mit zuckenden Hinterbeinen keuchend und zitternd auf dem Schragen, die Zunge schlaff zwischen den Zähnen, Panik in den Augen. Er versuchte den Kopf zur Laborantin hinzuwenden, war aber zu schwach dazu. Die aufgeblasene Manschette hatte seine Koronararterie zusammengepresst und das hervorgerufen, was man beim Menschen eine Ischämie eine Blutleere im Herzmuskel nennt. Immer krampfhafter rang er nach Luft, röchelte denn winseln konnte er nicht mehr. „Manschette entlüften“, befahl der Forscher nach 5 Minuten. Die Laborantin liess die Luft aus dem Schlauch entweichen, während der Forscher den Katheter herauszog und die EKG-Anschlüsse entfernte. „Eine Stunde liegenlassen. Sagen Sie Müller, er soll den nächsten Hund bringen!“ Die Laborantin hob den immer noch schwer atmenden Beagle mit beiden Armen hoch, legte ihn auf einen Tisch im Hintergrund des Labors und schnallte ihn dort fest. Schlaff wie ein geflecktes Tuch lag der braunweisse Hund da, ohne sich zu rühren.
Die Beklemmung in der Brust liess etwas nach da zuckte der Hund zusammen. Er hatte ein Winseln gehört, bald darauf ein Keuchen, Röcheln... Der nächste Versuch war im Gang. Während sich im gleichen Raum die tierexperimentelle Routine vollzog, schlief der namenlose Beagle schliesslich ein. Er wachte erst auf, als er wieder auf denselben Schragen wie zuvor geschnallt wurde. Und wieder der Stich der Beruhigungsspritze, darauf der schmerzhaftere, mit dem der Katheter in die Beinarterie eingeführt wurde, dann der klemmende Schmerz in der Brust, keine Luft, Panik, nochmals ein Stich... Diesmal wurde Atropin in die Vene gespritzt, um den Herzschlag zu beschleunigen. Nun raste ein zusätzlicher Tod durch den Hundekörper, der Schmerz krallte sich tiefer in die Brust, der Beagle schnappte, schnappte endlos nach Luft... Es dauerte 15 Minuten. Der Forscher verfolgte gespannt die Kurve, die das EKG-Gerät aufzeichnete. Die Laborantin blickte durchs Fenster des Hochhauses den vorbeiziehenden Wolken nach.
Es dauerte 15 Minuten, dann trat das Koma ein. Mit einer raschen Operation trennte der Forscher das Herz aus der Brust des Hundes, solange der Körper noch warm war. Die Laborantin assistierte ihm dabei, holte anschliessend den hohen, auf Rädern montierten Kadavercontainer, packte den Beagle am schlaffen Nackenfell und liess ihn in den Container fallen. Als er auf die schon darinliegenden Tierleichen aufschlug, ertönte ein hohles Plumpsen.
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Der Forscher nahm sofort eine Biopsie des geschädigten Herzmuskels vor und notierte im Versuchsprotokoll: „Die Verabreichung von Atropin scheint die Blutleere im Herzmuskel zu verschlimmern.“ Im zusammenfassenden Bericht über den „Verschluss einer Koronararterie an wachen Hunden zur Erzeugung einer Ischämie“, den er später in der Fachzeitschrift für Kreislaufforschung veröffentlichte, hiess es am Schluss: „Ob diese Auswirkungen allerdings den Bedingungen entsprechen, die beim Menschen während eines akuten Herzinfarkts vorherrschen, ist noch abzuklären.“
Die nächsten namenlosen Beagles zur Abklärung dieser Frage waren inzwischen bereits auf dem Flughafen der berühmten Chemiestadt eingetroffen.
Lislott Pfaff
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