Sizilianische Vesper im Zoo
Bericht über einen Sizilien-Aufenthalt im Herbst 1992 von Walter Hess
Keramikteller-Phantasie: Sizilien [Fotos: Walter Hess]
Wir trafen das Schimpansenweibchen zufällig. Es diente als Attraktion im kleinen, aber überraschend reich mit bedrohten Tieren ausstaffierten Zoologischen Garten, der zur Feriensiedlung Città del Mare an der sizilianischen Nordwestküste gehört. Das Gelände fällt dort steil ab; ich nutzte die Aussichtslage als Podium für ein paar Landschaftsaufnahmen.
Die Landschaft wäre dort an sich Attraktion genug; doch die Tourismusförderer wollten mehr bieten: Wilde Tiere, zum Greifen nah. Die offensichtlich unzufriedene Schimpansin hatte eine rosarote, mächtig angeschwollene Genitalregion, die periodische Sexualschwellung während des Eisprungs. Das Tier tobte kreischend im grossen Käfig umher. Es gab gewisse Künste als Hangel- und Schwingkletterin zum Besten und warf einen alten, dunkel- und königsblauen Mantel wild umher. Das empfängnisbereite Weibchen hatte keinen Partner und unseren Feststellungen zufolge nicht einmal einen Namen. Eine Affenschande. Dabei ist der Sozialinstinkt der Schimpansen stark ausgebildet. Der Tierpsychologe Robert Mearns Yerkes kam zum Schluss, dass ein allein lebender Schimpanse gar kein richtiger Schimpanse mehr ist. Das wurde gerade bestätigt.
Mit ausgebildetem Sozialinstinkt: Schimpansen-Weibchen im Zoo von Città del Mare (mit Kurt und Marianne Zeller, Eva Hess)
Die Schweizer Touristin Marianne Zeller aus dem Laufental, die sich in Begleitung ihres Mannes ebenfalls vor dem Käfig eingefunden hatte, erbarmte sich dieses Schicksals und förderte aus ihrer Handtasche einige Bonbons zutage, die sie der Schimpansin durch das Gitter zuwarf. Weil es sich bei den Schimpansen um die menschenähnlichsten Affen handelt, darf man annehmen, dass damit kein wesentlicher gesundheitlicher Nutzen erzielt worden ist, offensichtlich aber ein seelischer.
Die Schimpansin beruhigte sich tatsächlich, lutschte und schmatzte mit sichtlichem Vergnügen. Nach dem Genuss des 4. Zuckerstücks sprang sie auf den Boden, ergriff mit einem ihrer ausgesprochen langen Arme den Mantel, der ihr einziger Besitz und gleichzeitig das einzige Spielzeug war: Sie konnte ihn hochheben, über sich kreisen lassen, zu Boden werfen und in Ermangelung einer Trommel wild darauf schlagen, recht phantasievolle und neuartige Mantelanwendungen zur Unterstreichung des Aggressionsgebarens. Die Vergrösserung des Gesamtvolumens durch den wie eine Fahne geschwungenen Mantel diente zudem der augenfälligen Verstärkung von Drohbewegungen. Das kunstvolle Fahnenschwingen, wie es die Schweizer Sennen gelegentlich in friedlicher Stimmung vorführen, hat vielleicht die gleichen archaischen Wurzeln.
Seinen kostbaren, wenn auch etwas malträtierten Mantel schob das Tier durch die Stangenwand und warf ihn Marianne als Dank für ihre guten Taten zu. Eine rührende Szene: Die Welt für ein paar Bonbons!. Wir aufrecht gehenden Primaten mit unserem eher angelernten als instinktgeleiteten Verhalten verstanden einander sofort bestens und fanden trotz Gitterstäben zu einer intensiven Zusammenarbeit dank unseren uralten verwandtschaftlichen Bindungen. Marianne schob einen Apfel nach.
Kurt Zeller , Mariannes Ehemann, hatte inzwischen einen Reisbesen aufgetrieben und reichte ihn der Affendame geschenkweise. Sie riss den Besen gierig an sich und führte im Käfig spontan einige Wischbewegungen aus, um zu zeigen, dass sie sich im Gebrauch dieses Geräts sehr wohl auskannte. Schimpansen sind bekanntlich, wie wir Menschen auch, geschickt im manuellen Nachahmen, im Nachahmen überhaupt; sie sind lernfähig und im Werkzeuggebrauch erfahren.
Willkommenes Geschenk: Die Schimpansin freut sich über den Reisigbesen; im Vordergrund der wertvolle Mantel
Dann verschwand die Schimpansin mit dem Wischgerät hinter einer Konstruktion, die als Kiste oder mit etwas Fantasie als Häuschen identifiziert werden konnte, und wir sahen sie auf der anderen Seite wieder, nachdem wir um den Käfig herumgegangen waren. Das intelligente Tier hielt nun den Besen am gebündelten Reisig und schob den Stiel zwischen 2 Stangen durch – genau in die Richtung einer elektrischen Steckdose, die von Angehörigen der Kategorie der nackten Affen, wie wir Menschen vom englischen Verhaltensforscher Desmond Morris bezeichnet wurden, installiert worden war. Mit einem geradezu sensationellen Konzentrationsvermögen hob die Schimpansendame den Stiel an und liess ihn so oft auf die Steckdose fallen, bis diese aus der Verankerung gerissen war und nur noch an den Drähten hing. Da sich das sympathische Tier keinen Netzfreischalter leisten konnte, hatte ich für diese Lösung Verständnis. Elektromagnetische Felder stören einen im engeren Lebens- und Schlafumfeld wirklich. Wahrscheinlich haben die Affen einen ausgeprägteren Sinn für die Wahrnehmung von Elektrosmog.
Als bald darauf ein Wärter kam und der Täterin das Werkzeug wegnehmen wollte, schoben sich deren finster gerunzelte Augenbrauen in die Höhe, die Mundwinkel wurden nach vorn gezogen und die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengekniffen. Die Stimmung schlug vollkommen um. Dann entblössten sich die Zähne, und ein fürchterliches Geschrei setzte ein. Der Besen blieb drin. Marianne schob den Mantel dankend an die Besitzerin zurück, und wir verabschiedeten uns mit den besten Wünschen.
Verlängerter Arm: Die ungeliebte Steckdose wird systematisch zertrümmert
Der letzte Lebenszweck
Ganz in der Nähe waren in einem engen, vergitterten Gehege einige hundert ausrangierte Legehühner versammelt. Sie schienen schon halbwegs gerupft zu sein und hatten nach dem fleissigen Eierlegen als letzten Lebenszweck den Raubkatzen irgendwann als Frischfutter zu dienen, auf Abruf. In diesem Zoo, hoch über dem Golfo di Castellammare am Fusse des Monte Pecoraro , war gerade ein ausgewachsener Löwe dabei, ein solches Huhn genüsslich zu zerquetschen und zu erlösen, eine Abwandlung der sizilianischen Vesper, jener Oper von Giuseppe Verdi, in der es ja schliesslich auch zu einem Massaker (an den ehemaligen französischen Inselbewohnern) kam.
Im Löwenkäfig flogen die Federn. Ich möchte aber nicht verschweigen, dass noch viel mehr Hühner und andere Tiere wie Rinder, Schweine, Schafe und vor allem (Thun- und Schwert-)Fische sowie Krustentiere, welche den Prozess des Schlachtens und Zubereitens hinter sich hatten, zusammen mit Teigwaren-, Reis- und Kartoffelgerichten sowie Hartkäse von den menschlichen Gästen der nahen Feriensiedlung jeden Abend vom Selbstbedienungsbuffet abgeräumt wurden. Zum Herunterspülen dienten à discrétion zur Verfügung stehende Weine: körperreicher, mineralisch schmeckender Weiss- (gelber Albanello di Siracusa) und Rotwein (Cerasuolo di Vittoria). Sizilianische Alltags- beziehungsweise Tafelweine haben eine ausserordentliche Qualität, die man in Europa mit Ausnahme des Marsala, der nicht mehr als ein gepflegtes Industrieprodukt ist, lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen hat. In unserem Ferienhotel ereigneten sich also täglich Sizilianische Vespern, wobei es jeweils nur vor den mehrmaligen Gängen zum Buffet zu kurzen Volksaufständen kam.
Italienische Soldaten (Alpini), die eigentlich die Mafia oder andere Terroristen bekämpfen sollten, verpflegten sich im gleichen Speisesaal, und ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie den jungen Touristinnen. Die Anwesenheit von Militär auf Sizilien schien eher eine symbolische Bedeutung denn einen Nutzen zu haben. Die Uniformierten schlemmten ebenso mit wie ein Rudel junger Italiener; es waren die Angestellten der Tourismusanlage, wie sich bei genauerem Hinsehen herausstellte. Die letzteren schöpften viel mehr in den Teller als sie essen konnten, liessen den halben wohlschmeckenden Pecorino stehen und leerten überflüssigen Wein in den nur angetippten Dessertteller mit der Cassata alla Siciliana. Lebensmittel-Vandalismus. Noch selten habe ich Menschen so sinnlos verschwenderisch mit Nahrung umgehen sehen.
Auch ein Menschenzoo
Wer Sizilien völkerkundlich betrachtet, wähnt sich in einem einzigen Menschenzoo. Diese grosse Insel vor der italienischen Stiefelspitze gehört zwar zu Italien, wenn auch als Autonome Region , aber als Italiener fühlen sich die selbstbewussten Sizilianer mitnichten. Mit Italien haben sie nichts zu tun. Die Geschichte dieses Insel-Dreiecks im Mittelmeer ist schliesslich älter als die italienische. Sie ist eine unendliche Folge von Invasionen und Auseinandersetzungen; die Urbevölkerung wurde von den Eindringlingen völlig aufgesogen. Arabische, spanische, normannische und schwäbische Einflüsse sind hier unverkennbar, und insbesondere an der griechischen Geschichte kommt wohl kein Besucher vorbei. Die hellenistischen Zuwanderer prägten diesen kulturellen Schmelztiegel mindestens so sehr wie die anderen Eroberer und die durchreisenden Völker.
Von ein paar Backsteinen gestützt: Tempel der Jono Lacinia (Agrigent)
Jeder heutige Sizilien-Besucher nimmt ihre Spuren auf, die überall sichtbar sind. Er kommt zum Tempelbezirk von Agrigent mit dem wie aus einem Guss hingeworfenen Konkordia-Tempel oder zum grandiosen Trümmerfeld von Selinunt , ein Steinhaufen des Schicksals, das an eine zum Einsturz gebrachte Burg aus Bauklötzen erinnert. Bei Bittermandelbäumen und Ruinen erkennt der Besucher, dass der Mensch ebenso wie die gefangene und psychisch ruinierte Schimpansin in sich selber Vernichtung, Wüste und Zerstörung ist, was sich besonders dann manifestiert, wenn sich Menschenmassen zusammentun.
Man sagt zwar, die Sizilianer seien „echt krank an zuviel Geschichte“ ; doch die historischen Turbulenzen hatten auch ihr Gutes. Die unterschiedlichen Rassen und ihre Eigenarten formten eine Mischbevölkerung, die einst eine hohe kulturelle Leistungsfähigkeit hatte. Das wirkt sich heute noch im literarischen Sektor aus (siehe am Artikel-Schluss: „Bücher von sizilianischen Autoren“ ). Doch im modernen Sizilien scheint der Zerfall – nicht nur jener des kulturellen Erbes – das hervorstechende Merkmal zu sein.
Im Zerfall begriffen: Aussenwand eines Anbaus der Kathedrale Palermo
Starker Reiz Palermos: Hustenreiz
„Palermo, du bist schön wie der Regenbogen!“ soll im 13. Jahrhundert der Inselbesucher Ibn Safir ausgerufen haben. Er würde es heute nicht mehr tun. Die Hauptstadt der Region Sizilien besitzt zwar noch immer eine unübersehbare Fülle von Baudenkmälern aus allen Epochen, ein Stil-Cocktail; aber Palermo ist am Ende.
Der griechische Name Palermo bedeutet Ganz-Hafen . Heute ist die Stadt eher Ganz-Auto . Ins System rechteckiger Strassenkombinate und vielfältig gekrümmter, labyrinthischer Gässchen und Sackgassen hat sich eine von Motorrädern durchsetzte Blechlawine ergossen, die sich verheerender als das gelegentliche Wüten des Ätna im Osten der Insel auswirkt. Die überlebte aristokratische Tradition und die mannigfaltigen Kulturelemente zwischen den beiden kleinen Flüssen Paprieto und Kemonia sind von einer gleichmässigen schwarzen Russschicht überzogen; die Kirchen und Paläste zerkrümeln wegen der abgasschwangeren Luft. Ein ständig hupender, höllischer Verkehr zwängt sich zwischen beidseitig parkiertem Blech und anderem Abfall der Industriegesellschaft durch. Die Neubauquartiere legen sich wie ein Schuttgürtel rund um die Stadt; sie zerfallen oft schon, bevor sie fertig gebaut sind.
Das Bedürfnis nach Repräsentation hat sich mit der Zeit von der ehemals stolzen Architektur auf Motorfahrzeuge verlagert. Niemand will mehr zu Fuss gehen. Schon auf dem kleinen palermitanischen Flugplatz wird man für eine Strecke von 40 m in einen Bus gezwängt. Die knallig bemalten Pferdewagen mit den grossen Rädern, die dramatische Geschichten, vor allem von Schlachten wie etwa Gefechten der Kreuzfahrer mit den Sarazenen, erzählen und den Ausgang der Dramen aus Mangel an bemalbarem Platz offenlassen, und die mit roten Federbüschen geschmückten Pferde unter bunten, quastenbehängten Decken gibt es nur noch als Touristenattraktion. Früher wollten die Händler damit ihren ausgezeichneten Geschmack zur Schau stellen.
Jahrtausendealte Bauten werden in der heutigen Phase des Zerfalls vielleicht noch behelfsmässig mit ein paar billigen Backsteinen geflickt, wenn alles gut gegangen ist. Auch den romanischen, byzantinischen, arabischen und normannischen Schmuckelementen haben die Abgase den Glanz genommen. Der weltenthobene, mächtig herrschende Christus in der Kirche von Monreale , dessen auf Goldgrund dargestelltes Antlitz von Münzautomaten aus minutenweise beleuchtet werden kann, schien mit einem etwas verächtlichen Blick auf diese motorisierte Welt rund um den Talkessel (Conca d'Oro) hinunterzuschauen.
Innenhöfe bieten einen gewissen Schutz, auch vor Abgasen: Kreuzgang von Monreale
Die Stadt Palermo lag während unseres Besuches in der Abendsonne, von der rote Lichtbalken auf das Häuser- und Hochhäusermeer zwischen kegelförmigen Bergen fielen, als reflektierten sie das Blut, das während Jahrhunderten auf Siziliens Boden vergossen worden war. Untergangsstimmung.
Günstige Auswirkungen hatte in dieser vollmotorisierten Stadt mit ihren rund 700 000 Einwohnern die arabische Verschlossenheit, die sich auch architektonisch niederschlug: Die Bauten öffnen sich nur gegen prachtvolle Innenhöfe: Dort drinnen, wie auch in den Kreuzgängen von Monreale und der normannischen Kirche San Giovanni degli Eremiti (einst eine Moschee) mit den 5 Kuppeln in einem Rosarot, das vom sauren Regen gebleicht worden ist, kommt die Abluft weniger gut hin. Bei der offenen Kathedrale aber ist das Tempo der Fassaden-Verschmutzung grösser als es jenes der permanenten Renovationen sein kann.
In den geschwärzten Wohnhäusern daneben kommt das Trinkwasser nur jeden 2. Tag aus der Leitung. An ihren festlichen Balustraden hängt armselige Synthetikwäsche. Einschüsse aus dem Zweiten Weltkrieg sind noch nicht vernarbt. Ganze Stadtteile sind ohne Kanalisation; wo es Abwasserkanäle gibt, führen sie direkt in den Golfo di Palermo . Immerhin: Unser Feriendorf Città del Mare mit seinen 2000 Betten, auf einer steilen Felsenküste gelegen und etwa 20 km (Luftlinie) von Palermo entfernt, hat aus Gründen des touristischen Selbstschutzes seine eigene Kläranlage: die verwöhnten Feriengäste würden es gar nicht lieben, in ihrem eigenen Dreck baden zu müssen, wie man an der zuständigen Stelle richtig erkannt hat.
Die Stadt Palermo hat ihre eigenen Gesetze. Wer das System der favori , der Gefälligkeiten, respektiert, hat Ruhe; wer es missachtet, muss Angst und Leid über sich ergehen lassen. Die Mafia kontrolliert alle Geschäfte, auch ausserhalb der Kapitale, wohl auch die Zeitungsverkäufer, die den jüngsten letzten Mord ausschreien. Von den 5 Millionen Sizilianern sollen 5000 zur Mafia gehören; sie waren bis vor kurzem durch Mitwisserschaft und Drohungen abgeschirmt, ein dichtes Netz, das seit dem 2. Semester 1992 durch massive staatliche Interventionen und Denunziantentum etwas aufgesprengt wird. Das Fass war überlaufen, nachdem der Justizpalast seine besten Richter wie Giovanni Falcone verloren hatte.
In Castelvetrano im Südwesten von Sizilien (Nähe Selinunte) gibt es einen flachen, nach aussen fensterlosen Gefängnisbau, welcher an den hermetisch abgeriegelten Intensivstall eines fortschrittlichen, subventionierten Munimästers erinnert. In dem Gefängnis können die Häftlinge aus 3 Menus das ihnen zusagende auswählen, wie mir eine Schweizerin in der Nähe der dortigen Dreifaltigkeitskirche erzählte. Unsere vandalische Schimpansin würde sich in ihrem Gefängnis bei solch einer Bedienung alle Zehen lecken.
Vulkan-Stimmung in der Gaststube: Ätna-Ansichtskarten und Lava-Produkte
Augenschein auf dem Ätna
Da die Mafia Mitte 1992 mit ihren Morden für negative Schlagzeilen sorgte, schien mir der Zeitpunkt für einen Sizilien-Besuch günstig zu sein; der Tourismus fand nur noch in reduziertem Rahmen statt, und so hatte man einigermassen Ruhe. Und im Oktober war ohnehin Saisonausklang.
Trotz minimaler Belegung hatte man uns allerdings ein ebenerdiges Zimmer zugeteilt, das nur einen Ausblick auf einige Pinienstämme und die hintere Abschlusswand einer Diskothek bot, die glücklicherweise des Besuchermangels wegen gerade ausser Betrieb war; die Lautsprecher waren demontiert.
Die desolate Lage unserer Unterkunft mit fehlendem Meerblick spielte keine grosse Rolle, da ich meistens unterwegs war. Vor allem wegen eines Augenscheins auf dem Ätna hatte ich mich für Sizilien entschlossen. Dieser berühmte Vulkan hielt seine oft überströmende Aktivität – zu meinem Leidwesen – damals allerdings im Zaume. Im Durchschnitt ereignen sich am Ätna etwa 28 Ausbrüche im Jahrhundert, und ein relativ spektakulärer war eben beendet; das Leuchtfeuer des Mittelmeers war wieder ausgeschaltet.
An einem frühen Morgen fuhr ich also gegen die Inselmitte, vorbei an der Bergstadt Enna , dem Herz und Aussichtsturm Siziliens, Richtung Catania ; kurz vorher zweigte ich ab, um via Misterbianco und Belpasso nordwärts zum Fuss des Ätna ( il monte oder Mongibello = Berg der Berge, eine verunstaltete Form des italienischen und arabischen Wortes für Berg: Monte und Djebel) zu gelangen.
Schwarze, staubige Basalt-Abbaustellen prägten das Bild. Ich weiss nicht, ob diese auf Feuer gegründeten und auf erstarrter Lava erbauten Ortschaften die hässlichsten von Sizilien sind. Mir schien es jedenfalls so. Der Schrecken, mit dem man hier gelegentlich lebt, wurde manifest.
Unmittelbar oberhalb der Siedlungen beginnt eine üppige Vegetation mit Reben, Olivenbäumen, Pinien, vielerlei Obst, Feigenkakteen, Haselnusssträuchern, Eichen und Buchen, die beweist, wie enorm fruchtbar die aus Lava gebildeten Böden sind. Dieser Vulkan hat die von ihm angerichteten Schäden als Lieferant vorzüglicher Böden aus unverbrauchter Ursubstanz und als gigantischer Wasserspeicher wieder einigermassen gutgemacht.
Folgen der Hitze-Strahlung: Der Ätna schleudert Wolkenfetzen in den Abendhimmel (von Catania aus)
Der Ätna wird weniger als Berg, sondern vielmehr als ganzer Planet bezeichnet, der am Fusse in die Zivilisations-Landschaft eingewachsen zu sein scheint. Die Vormittagssonne strahlte bei der Auffahrt zum Silvestri-Krater , der auf 1986 m ü. M. anzutreffen sein würde. Die Pflanzenwelt lichtete sich mit zunehmender Höhe; die Baumzone riss schlagartig ab. Hier fühlen sich nur noch der flammende Ätnaginster und der Astragalus , das Dorngewächs des Ätna (spinov santo), wohl. Die kokshaldenbraune, eisenhaltige Vulkanschlacke, die sich bei Sonneneinstrahlung rosarot färbte, nahm in diesem Gebirge aus Tausenden von Schlünden überhand, und dazwischen gab es gelegentlich ein Stück ausgewachsenen Waldes, das offenbar von den rot glühenden Lavaströmen in Ruhe gelassen worden war.
Weit oben tauchte die gut ausgebaute Strasse Ätna-Ost in eine hochnebelartige Wolke ein, in eine wilde Öde, in der sich das pflanzliche und tierische Leben restlos verlor. Ich hatte vergeblich gehofft, das umfassende Grau würde sich noch rechtzeitig auflösen. Ein intensiver Nieselregen und starke Winde setzten ein. Das passte nicht ins meteorologische Sizilienbild mit den 6 Sonnenstunden pro Tag im Jahresdurchschnitt.
In der Nähe der unteren Seilbahnstation befindet sich das Restaurant des Seeräubers Filippo (Corsaro Filippo). Da ein weiterer Aufstieg zum 3300 m hoch gelegenen Gipfelkrater bei diesen meteorologischen Verhältnissen indiskutabel war, machte ich mich den Sturmwinden zum Trotz wenigstens zu Fuss auf zu den 1892 entstandenen Kratern im Bereich der Monti Silvestri an einer Flanke des Ätna, die als Knopflochreihe (bottoniera) bezeichnet werden. Der rieselnde, schartige Basaltsand [1] bot nur unzulänglich Halt, und auf Kreten hatte ich das Gefühl, der stürmische Wind trage mich weg. Nicht einmal einen Wacholderbusch gab es hier, an dem man sich hätte festhalten können. Ich hätte viel dafür gegeben, den multifunktionellen Mantel der Schimpansin bei mir zu haben.
Der Nebel gab den Blick in einen wohl 30 m tiefen Krater frei, der allerdings nicht viel imposanter als eine Kiesgrube war und an eine Urlandschaft, an eine Einöde erinnerte; nur einige Pionierpflanzen hatten sich angesiedelt.
Ich hatte keine Kopfbedeckung und andere Regenschutzkleider bei mir. Alles wurde durchnässt; die Kamera-Elektronik stieg aus. Der Wind kühlte meinen nassen und immer wieder neu benetzten Schädel derart ab, dass ich befürchtete, mein Gehirn würde mit der Zeit einfrieren. Ich spürte einen massiven, zunehmenden Druck. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als eilig zu Filippo zurückzukehren und aufzutauen.
Alles, was ich in der Natur draussen aus klimatischen Gründen verpasst hatte, war in dem Gasthaus ab Video, in Büchern und auf Postkarten zu sehen. Auf dem Fernsehschirm, der das Ätna-Video wiedergab, öffneten sich Spalten im Vulkangebirge, und unter einer mit Asche und Schlacken schwer beladenen Ausbruchwolke strömten an verschiedenen Stellen unvorstellbare Massen von Lava zu Tale, alles unter sich begrabend. Ich erinnerte mich an den Ort Misterbianco und dachte, dass auch dort nach der Evakuation von Menschen und Tieren eine solche Radikalkur eigentlich eher segensreich wäre...
Blendend grelle nächtliche Explosionen bewirkten auch noch als Filmaufzeichnungen einen theatralischen Effekt. Das Schauspiel, das in Filippos Gasthaus den Videokassetten-Verkauf anzukurbeln hatte, wärmte mich etwas auf; der Druck im Kopf liess allmählich nach. Der Wirt forderte mich auf, den feuerroten Likör Fuoco dell' Etna zu probieren; doch am Aufbau dieses Feuerwassers schien vor allem die italienische Chemieindustrie mit ihren Farb- und Aromastoffen beteiligt gewesen zu sein. Ich wollte mich nicht vergiften.
Draussen dauerten Wind und Regen an. Ein Motorradfahrer, der es ja wissen musste, behauptete, die Windgeschwindigkeiten seien so um 150 Stundenkilometer. Die Abfahrt nach Zafferana unterhalb des Wolkengürtels drängte sich förmlich auf. Diese Ortschaft mit den rund 4000 Einwohnern war in den Monaten nach dem Ätna-Ausbruch vom 14. Dezember 1991 auf der Südostseite besonders bedroht gewesen. 10 bis 20 Kubikmeter 1070 °C heisse Magma waren pro Sekunde ausgestossen worden. Etwa 900 m weiter oben am Hang war denn auch eine Zunge aus erstarrter Lava zu sehen. Und es schien mir, als hätten leistungsstarke Teleobjektive wesentlich mitgeholfen, die etwas übertrieben dramatischen Medienberichte über Gefahren und das Bombardement mit 3 Tonnen schweren Betonblöcken, die mit Hilfe von Helikoptern in den Vulkanschlund geworfen wurden (Aktion Piombo = Propfen), zu illustrieren.
Warten in Taormina
Ich fuhr nach Taormina weiter, dieses sizilianische Symbol des Nobeltourismus am Hang des Monte Tauro , um dort besseres Wetter abzuwarten. In dieser mittelalterlichen Stadt, die einen atemberaubenden Blick übers Ionische Meer gewährt, stellte selbst der wortgewaltige Johann Wolfgang von Goethe (am 7. Mai 1787) fest: „ Gott sei Dank, dass alles, was wir... gesehen, genugsam beschrieben ist.“
Damals gab es am autofreien Corso Umberto und an den kleinen Treppenstrassen noch nicht so viele Antiquitäten- und Souvenirläden mit Plastiktieren, Tonfiguren und Marionetten für ein Theater, das nicht mehr existiert, sowie Bars und Restaurants wie heute. Ein bisschen Capri. Immerhin haben seinerzeit Wilhelm II., Richard Wagner, Guy de Maupassant, Emil Nolde und Tennessee Williams hier gesessen. Dass ich nun dasselbe tat, ist leider von keinem Historiker bemerkt worden und dürfte die Nachwelt weniger interessieren. Nur der Vollständigkeit halber halte ich dies hier fest, das heisst ich begrabe diese Feststellung im alles verschlingenden Schlund des Internets.
Das Theater (Teatro Greco) ist ein römischer Bau, der die Aussicht verrammelte – eine wahre Tragödie. Er steht auf griechischen Fundamenten, wie manches von unserer Kultur. Die Bühne ist in der Mitte zum Glück eingebrochen. Deshalb kann man von dieser Anlage aus das Ionische Meer bis hinüber nach Kalabrien, die Castiglione-Ketten und seine Majestät, den Ätna, wie zu griechischen Zeiten betrachten, falls dieser nicht in eine Wolke vergraben ist. Und das blieb er den ganzen Tag über hartnäckig. Aber die naturgegebene Szenerie war gleichwohl überwältigend, einer der prachtvollsten Ausblicke von Sizilien, als hätte jemand diese Kulisse speziell für ein höchst anspruchsvolles Publikum entworfen.
Die Stelle war von den Griechen entdeckt worden, welche für die Schönheit empfänglicher als die meisten anderen Völker – inklusive die Römer – waren.
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Beim Einnachten blieb mir nichts anderes übrig, als meine Exkursion abzubrechen und bei stockendem Feierabendverkehr an Catania vorbei zurückzufahren. Der Ätna schleuderte einige Wolkenfetzen himmelwärts und versank allmählich in der Dämmerung. Es folgten 3 Stunden Autofahrt, bis Palermo in Sicht kam. Der Rest, vorbei am kleinen Zoo von Terrasini, war bald geschafft.
Dort mag das namenlose Schimpansen-Weibchen nach einem anstrengenden Tag bereits köstlich geschlafen haben. Es dürfte – der elektrischen Störfelder nun ledig – hoffentlich von einem netten Partner geträumt haben.
Verwendete Literatur
Cronin, Vincent: „Die goldene Wabe Sizilien“, Scherz & Goverts Verlag, Stuttgart (vergriffen).
König, Ren: „Sizilien“, Büchergilde Gutenberg, Zürich 1943.
Morris, Desmond: „Der nackte Affe“, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München/Zürich, 1968.
Nick, Dagmar: „Sizilien“, Albert Langen-Georg Müller Verlag, München 1976.
Rousselot, Jean: „Sizilien“, Editions Rencontre, Lausanne 1963.
Schwarz, Heinrich M.: „Sizilien. Kunst Kultur Landschaft“ , Verlag Anton Schroll & Cop., Wien 1945.
Bücher von sizilianischen Autoren
Sizilien wird als „Land der Dichter“ bezeichnet; denn keine italienische Provinz hat in den letzten 100 Jahren so viele bedeutende Schriftsteller hervorgebracht. Hier einige Namen und Titel:
Brancati, Vitaliano: “Don Giovanni in Sicilia.”
Bell'Antonio; “Paolo il caldo” = der Heissblütige.
Capuna, Luigi: “Der Marchese von Roccaverdina.”
De Roberto, Federico: “Die Vizekönige.”
Pirandello, Luigi: “Heinrich der Vierte.”
Pascal Mattia: „Einer, Keiner, Hunderttausend“ und etwa 240 realistische Novellen.
Sciascia, Leonardo: „Tag der Eule“, „Tote auf Bestellung“, „Tote Richter reden nicht“ – darin geht es um Macht und Mafia.
Tomaso di Lampedusa, Giuseppe: “Der Leopard.”
Verga, Giovanni: “Sizilianische Bauerngeschichten.. "
I Malavoglia: “Mastro Don Gesualdo”.
Vittorini, Elio: “Gespräch in Sizilien”; “Die Garibaldina.”
[1]Lava und Magma sind austauschbare Begriffe: Eine Gesteinsschmelze aus Silikaten, in denen Gase, Eisen, Aluminium, Natrium, Kalium, Magnesium, Phosphor, Schwefel und viele andere chemische Elemente enthalten sind und die sich unter einer sehr hohen Temperatur verbunden haben. Unter dem Begriff Basalt versteht man das Gestein, das sich bei der Erstarrung der flüssigen Lavamasse bildet. Der Basalt, der sich am Ätna ablagert, kann auch schwarze, grünliche oder braune Färbungen annehmen.
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