Geschenk eines Augenblicks
In meinem Quartier ist die Zürcher Stadtmühle angesiedelt. Wenn die Getreide-Lieferungen zu ihr hin rangiert werden, muss der Verkehr anhalten. Die Eisenbahn-Waggons überqueren dann die vielbefahrene Limmatstrasse am Escher-Wyss-Platz.
Da stand ich auch wieder einmal und wartete. Es war der Todestag meiner Mutter. Sie starb unerwartet. Mein Leben stand damals für einen Augenblick ebenfalls still. Noch ganz benommen und auf grenzüberschreitenden Wellen schaute ich den vorbeiziehenden Waggons nach. In der Regel interessiert es mich, woher die Getreidelieferungen kommen: Von Kanada, Holland, Finnland, Norddeutschland usw. Und der Zucker aus Paris. Diesmal schaute ich den Federn zu, wie sie es ermöglichen, den starren und schweren Wagen aus Eisen Kurven zu fahren. Dieses Schwingen! Faszinierend. Und sofort wusste ich: Meine heute verstorbene Mutter war eine solche Feder. Beweglich, hilfsbereit, spontan. Gar nicht starr oder stur. Und sofort wusste ich auch noch, dass dies ebenfalls meine Aufgabe im Leben sei.
Seither sind Jahre vergangen und jedesmal, wenn ich, auf meinem Velo sitzend, die Vorbeifahrt des Getreidezuges abwarten muss, erinnere ich mich an jenen Tag, der mir eine Erschütterung, aber auch eine tiefe Einsicht gebracht hat.
Rita Lorenzetti
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