Heinrich Tinners Sandstein
Vor seinem Wohnhaus im St. Galler Rheintal liegt ein ansehnlicher Block Rorschacher Sandstein. Heinrich Tinner hat ihn von seiner Schwester zu einem runden Geburtstag geschenkt erhalten. „Mach etwas daraus!“ Sie hatte beobachtet, wie sich ihr Bruder auch den Steinen zuwandte. Tinner ist Schreiner und Sozialpädagoge und schon rund 27 Jahre im Strafvollzug tätig. Er leitet die Schreinerei in der Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain im Kanton Thurgau. Er sagt, er widme sich jenen Menschen, die die Gesellschaft nicht ertrage oder jenen Bausteinen, die die Bauleute verworfen hätten.
Er erzählt, wie er erstmals von einem Steinmetz ins Gebiet des Lukmaniers eingeladen worden sei. In diese unruhige Gegend, wo Gestein und Vegetation noch in grosser Bewegung sind, wo man sich auch heute noch in die Entstehungsgeschichte der Erde zurückversetzen könne. Er begriff, dass Steine keine tote Materie sind. Auch beim Bau der Grundmauern seines Hauses sprachen sie ihn an. Und damals beschloss er, sich mit ihnen einzulassen.
Keinesfalls sollte es nur ein Spass werden und möglicherweise noch mit dem Anspruch, sofort ein Kunstwerk zu schaffen. Er beschloss, diszipliniert vorzugehen und einen schlichten Kubus zu gestalten. Da erlebte er, dass ihn der Stein ansah. 2 „Augen“ kamen hervor. Je länger er einen Würfel zuhauen wollte, desto mehr zeigten sich Formen, die einer Eule ähnlich sahen. Tinner gab es auf, seine Disziplin durchzuziehen. Noch sind die Ansätze zum Würfel, den er erschaffen wollte, zu sehen, aber auch 2 Fronten, die durch Flecken und die Struktur im Stein eine Eule erahnen lassen. Er begriff, dass ihn das in vielen Kulturen verehrte Symbol der Weisheit angesprochen hatte. Seither nähert er sich den Steinen mit grosser Sorgfalt und Respekt und erlebt, wie sie ihm Einsichten schenken.
Nachdem der Sandstein von der Schwester 2 Jahre vor der Haustür gelegen hatte, beschloss er, ihn zum Namensstein zu machen. Er will nach und nach alle Namen von Menschen, die ihm nahe stehen oder nahe standen, eingravieren. Mit den derzeitigen Erfahrungen kann er ausrechnen, dass er ein alter Mann sein wird, wenn alle 4 Seiten beschriftet sein werden. Er wundert sich, wie sich die Namen seiner Frau, der Tochter und der Enkelin auf der 1. Linie wie auf einem vorbereiteten Platz einfügen konnten. Er liebt die Zufälligkeiten und ist gespannt, wie sich weitere Namen einfinden werden. Soeben ist sein Vater gestorben. Dessen Vorname wird nun die 2. Linie anführen.
Tinner sprach auch über die grosse Freude, als ihn der Steinmetz zum Werkzeugeinkauf eingeladen hatte. Als Steinhauender fühlt er sich jetzt jenen Menschen verbunden, die schon vor 100 Jahren mit den gleichen einfachen Werkzeugen arbeiteten. Er mag die stille Arbeit, die kein Lärm erzeugt. Er kann sich in die Namen, die er dem Stein einverleibt, vertiefen. Er hört auf den Stein und auf dessen Zustimmung zu seinen Vorhaben. Mittlerweile kennt er den Klang seiner Schläge und kann aus dem Ton die Zustimmung des Steins hören. Dieser fordert von ihm Ruhe, Respekt und Sorgfalt. Sind sie dabei, lässt er das Werk gelingen.
Rita Lorenzetti (geschrieben im April 2003)
Wer hinsieht, wird angeschaut: Die Eule im Sandstein
Zuneigung zu Zufälligkeiten: Heinrich Tinner
Füllt sich langsam: Der Namenstein
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