Erfahrungen mit Sein und Schein
Was Sein ist, wissen wir weniger gut. Den Schein kennen wir besser. Beide sind Pole, die uns in einen gigantischen Wettbewerb einbinden. Das Sein, die reale Existenz mit ihrem Lebenswillen und allen Talenten. Der Schein die Selbstdarstellung und Ausstrahlung.
Die Autoren des Wörterbuchs „Wortprofi“ übersetzen Sein und Schein mit „Wirklichkeit und Einbildung“. Sie machen verständlich, dass unsere Vorstellungskraft fähig ist, Bilder zu entwickeln wie wir sind oder sein möchten und daran zu glauben und damit zu imponieren. Der Schein muss das, was wir sind, erhellen. Doch stimmen Sein und Schein nicht immer überein. Der Schein kann Maske sein. Wir reden von einem ehrlichen, natürlichen Menschen, wenn sich Sein und Schein gleichwertig ergänzen. Wenn die inneren Werte durch die Persönlichkeit aufscheinen.
Ausstrahlen und beeindrucken
Wir suchen Bestätigung. Wir brauchen Anerkennung. Wir wollen beim Gegenüber ankommen. Die äussere Erscheinung muss uns dabei helfen. Auftritte werden geübt.
Mode und Werbung funktionieren als Orientierung. Sie zeigen den Zeitgeist auf, geben Vorgaben. Darin aufgehoben zu sein, gibt eine gewisse Sicherheit.
Eine etwa 30-jährige, immer nach neuesten Trends angezogene Buchhalterin war erstaunt, als ich sie fragte, wie sie mit Sein und Schein umgehe. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass diese beiden Pole nicht deckungsgleich funktionieren könnten. Sie verwies mich auf ihre Arbeit, die Perfektion verlange und auf die Gesetze, die eingehalten werden müssen. So verhalte sie sich. Auch mit unterschiedlicher Kleidung wolle sie nichts anderes darstellen, als sie sei. Sie bemerke aber, dass sie von der Kleidung beeinflusst werde. Trage sie einen Jupe, fühle sie sich gedämmt. In sportlicher Kleidung gebe sie sich offen und frech. Und der Hosenanzug verhelfe zum Respekt in der Arbeitswelt.
Als im letzten Jahrhundert die Beraterinnen in den Modehäusern meinten, nur sie wüssten, was die Kundin tragen müsse, liess ich mich einmal zu einem Kleid überreden, das ich nicht gesucht hatte. Meine damals 5-jährige Tochter begann zu weinen, als sie es an mir sah und rief: “Wenn du dieses trägst, bist du nicht mehr meine Mutter.“ Kinder verfügen noch über den gesunden Instinkt, wie Inneres und Äusseres übereinstimmen sollten. Die Mode allein kann nicht richtungweisend sein.
Äusserlichkeit bis zur Sinnlosigkeit
Mit dem Schein spielen Werbung und Medien. Täglich wird uns vorgeschrieben und vorgespielt, was angeblich erstrebenswert sei. In subtiler Art rühren sie an unsere Gefühle und wecken Träume. Bilder der Werbung werden zu Vorbildern, Menschen zu Idolen und Ikonen, denen nachgeeifert wird. In der irrigen Annahme, wir seien so schön und begehrenswert wie sie, wenn wir die gleichen Kleider tragen, den ähnlichen Lebensstil pflegen, dasselbe Handy benützen, bleiben wir an der Oberfläche und beziehen unsere innere, wahre Natur nicht mit ein. Das Spiel der Verstellung steht auf wackliger Bühne, fällt schnell zusammen. Wenn wir Begabungen oder Erfahrung vortäuschen, die nicht vorhanden sind, fallieren wir.
Wie hohl ein Leben werden kann, wenn das Äussere überbetont wird, können wir im Roman „Musk“ von Percy Kemp verfolgen. Die Hauptperson ist vom Duft des jahrelang benützten Eau de Toilette abhängig. Als die Rezeptur verändert wird, bricht Panik aus. Das ganze Sein eines bestandenen Mannes gilt fortan nur noch der Suche nach einem verlorenen Detail seines Scheins. Das Leben wird sinnlos, wenn es sich nur an Äusserlichkeiten orientiert. Und in diesem Fall führte es zum Selbstmord. Weder die Spannung, noch die elegante Sprache und faszinierende Detailtreue, mit der der Autor begeistert, helfen einem über die Leere dieser Geschichte hinweg.
Statussymbole
In der Steinzeit war jener Mann mächtig, der die grösste Keule schwingen, den Bär erlegen und die schönste und stärkste Frau erobern konnte. Könige und Kaiser imponierten mit ihren Palästen, ungeachtet der Opfer unter den Bauleuten, die geschunden wurden. In der Türkei wurde uns in einer grossen Moschee ein Minarett mit besonderer Entstehungsgeschichte gezeigt. Der in finanzielle Not geratene Bauherr wurde wütend, als ihm ein befreundeter Sultan Edelsteine überbringen liess. Anstatt sie dafür zu verwenden, die Finanzen zu beruhigen, liess er die wertvollen und einmaligen Steine zermahlen und dem gewöhnlichen Baumaterial zufügen. Der Stolz ertrug es nicht, unterstützt zu werden. Anstatt dankbar zu sein, baute er einen zusätzlichen Turm, um zu zeigen, wer der Mächtigste sei.
Die Statussymbole der Reichen von heute werden in den Lifestyle-Magazinen präsentiert. Trendartikel und Luxusmarken werben ohne Worte. Schöne oder extreme Bilder, zusammen mit dem Markennamen, wirken als Vorbilder. Es wird nicht mehr die Botschaft vermittelt, dass man mit dem Produkt XY besser aussieht oder mehr Erfolg hat. Die Marke mit ihrem starken Auftritt allein schafft Sicherheit, mit dem angebotenen Produkt beachtet zu werden. Statussymbole müssen die tatsächliche oder angestrebte Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht unterstreichen. Da sich die Demokratisierungsprozesse fortsetzen, ist für Verwirrung gesorgt. Wer heute beispielsweise einen Mercedes fährt, ist nicht unbedingt ein Metzger. (In Frankfurt angeblich früher das Auto für den Metzger.) Wer eine Rolex-Uhr trägt, ist nicht automatisch ein Star.
Billige Kopien aus weniger wertvollem Material und weniger anspruchsvoller Verarbeitung aus dem Bereich Lederwaren, Schmuck, Kosmetik usw. ermöglichen es der Masse, dass auch sie ein Stück vom Trendkuchen bekommen kann. Anderseits kann es auch für weniger Begüterte erstrebenswert sein, sich ein ganz bestimmtes Luxusgut zu ersparen, einfach weil es bewährt und einmalig ist und nach dem Grundsatz, dass sich Qualität auszahlt. Nicht alle, die eine Markenuhr tragen, behandeln sie als Statussymbol. Und nicht alle, die die Werbung interessiert beachten, sind Sklaven von ihr.
Und doch ist unsere Gesellschaft im Materialismus gefangen, sieht den Sinn mehrheitlich im Imponieren, beschäftigt sich oft ausschliesslich nur mit dem Schein. Es ist alarmierend, wenn Jugendliche leiden, weil ihnen die Eltern keine Markenkleider kaufen können. Noch auf der Suche zu sich selbst, haben sie es schwer, den Sinn des Daseins zu finden. Es ist alarmierend, wenn junge Menschen Nasen und Busen operativ verändern oder Fett absaugen lassen. Der Schönheitskult hat dekadente Formen angenommen. Alles ist möglich. Alles ist erlaubt, ohne begriffen zu haben, was Leben ist. Jeder Natürlichkeit abhold, heisst es in einem Buchtitel witzig und frech: „Lieber gut geschminkt, als vom Leben gezeichnet.“
„Den Schein wahren“
Warum spielen wir eigentlich dieses Spiel? fragte sich ein junger Banker, als ich auch ihn zu meinem Thema befragte. Ganz klar, der Schein sei ein Verführer, würde benützt, um viele Unsicherheiten zu überspielen. Kein Arbeitsplatz sei heute auf Jahre gesichert. Der Existenzkampf enorm. Selbst der Austausch eines verbrauchten Autos werde argwöhnisch beobachtet.
Sozialarbeiter erleben, wie sich unsichere Menschen verschulden, weil sie das Glück in den materiellen Dingen vermuten und der Werbung erliegen. Und Psychologen, die die Seelen der Manager kennen, werden bestätigen, dass die Lüge dort mächtig auftritt, wo die Unsicherheit am grössten ist.
Kultur
Viele Kulturgüter, denen wir heute auf unseren Reisen begegnen, entstanden aus überdimensionierter Selbstdarstellung von Fürsten, Königen und Kaisern. Stellvertretend für sich oder ihr Volk liessen sie monumentale Prachtbauten erstellen, um Nachbarvölker in den Schatten zu stellen und dem eigenen ein starkes Selbstbewusstsein zu geben. Kirchen wurden angeblich zur Ehre Gottes gebaut, doch musste ein solcher Bau auch etwas noch nie Gesehenes darstellen. Aus der Geschichte der russischen Ikonenmaler wissen wir, dass den grossen Künstlern nach Vollendung ihrer Werke die Augen ausgestochen wurden. Sie durften keinesfalls fähig bleiben, für einen Konkurrenten eine ähnliche Arbeit zu vollbringen.
Der Künstler von heute muss solche Grausamkeit nicht mehr befürchten. Aber auch er braucht noch die kleinen und grossen Könige, für die er Visionen realisieren kann. Ohne Geldgeber hungerte mancher Kulturschaffende und verkümmerte manches Talent. Auch in der Werbebranche arbeiten viele Kreative aus reiner Freude am Gestalten. Sie bringen in erster Linie ihre Talente ein und wollen nicht Verführer sein. Ohne Schein würde das Sein wohl verkümmern.
Was ist Sein?
Es gibt allen Tätigkeiten und Eigenschaften das Leben ein. Es ist der Atem, der die Kraft und den Schwung verleiht und uns lebendig macht. Tätig sein, mutig sein, humorvoll sein, verantwortlich sein.
Sein bedeutet für mich auch stille sein. Fähig, sich auf eine Arbeit oder auf sich selbst zu konzentrieren. Da sein, wo ich gerade bin. Ich fühle das Sein, wenn es mir hilft, den Sinn meines Tuns zu erkennen. Warum mache ich dies und das? Welche Auswirkungen haben diese Tätigkeiten? Dann wird Sein zum Bewusstsein. Das Sein finde ich auch in der Natur. Aufgehoben sein im grossen Ganzen, in der Begegnung mit allem Lebendigen.
Der wahre Schein
Ein Individuum werden, heisst, aus der Masse heraustreten, den eigenen Weg trotz vieler Verunsicherungen gehen. Sich selber treu bleiben, den raffinierten Verführungskünsten des oberflächlichen Scheins widerstehen, das Spiel durchschauen. Wir müssen nicht alles haben, um glücklich zu sein. Wir müssen nicht alle Vorgaben nachbeten. Wir müssen nicht mit materiellen Gütern imponieren und Mitmenschen verunsichern. Wir sollen uns selber sein und verantwortungsvoll handeln. Wer das Wohlbefinden bei sich selbst gefunden hat, ist fähig, es auch dem Mitmenschen zu gönnen. Es entwickeln sich Respekt, Toleranz und Mitmenschlichkeit. Und plötzlich hat der Schein seine ehrliche und wahre Ausstrahlung bekommen.
Es gibt diese Menschen. Wenn wir ihnen in die Augen schauen, sind wir betroffen und wissen sofort, dass sie die Prüfungen bestanden haben.
Es gibt solche Menschen auch als Volk. Unverdorben von moderner Zivilisation leben im Inselreich zwischen Indischem und Stillem Ozean Seenomaden, die sich jeder Abhängigkeit verweigern. Ihre Weisheit ist berührend, weckt Heimweh nach verlorenen Ordnungen. Sie helfen einander und teilen alles. Sie leben auf Booten. Ihre Welt ist die Unterwasser- und Überwasserwelt. Milda Drücke hörte von ihnen und durfte sie finden. Ihre Erfahrungen beschreibt sie im Buch „Die Gabe der Seenomaden“.
Ihre Anwesenheit kommentierte der weise, alte Ohm Lahali: “Wir sehen dich und sind überrascht, weil du von weit her gekommen bist. Wir staunen, weil du bei uns sein möchtest und isst, was wir essen. Wir sehen, dass du höflich bist, dich respektvoll kleidest. Wir fühlen, dass wir dich ehren. Alle freuen sich, wenn sie dich sehen.“
Das ganze Buch spricht vom wahren Sein und Schein. „Schweigend sahen wir uns an. Lange Zeit. Neugierig, bejahend. Mit Namen, Talent, Besitz oder Glaube konnten wir uns weder beeindrucken, noch verunsichern. So blieb uns unser einfaches Ich, seine ehrliche, wortlose Sprache.“
Rita Lorenzetti
Bücher-Hinweis
Drücke, Milda: „Die Gabe der Seenomaden“, Verlag Hofmann und Campe
Kemp, Percy: „Musk“, Verlag Argon
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