Lieber Walter,
ich habe ein Problem und will Dich um Rat fragen: Allergien gibt es überall und sie entwickeln sich allmählich zur Volksplage. Meine eigene Allergie ist von besonderer Art: Ich reagiere sehr allergisch auf das Wort "Wahljahr", das von Politikern, Medien und Parteibonzen bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit benutzt wird. Ich verstehe wenig von Politik, darum meine Fragen an Dich: "Ist es Aufgabe unserer Politiker, anstehende Probleme zu lösen oder für das Wahljahr Weichen zu stellen? Bestimmt die Politik das Wahljahr oder das Wahljahr die Politik?"
Werner Allemann, CH-7074 Malix GR
Antwort: Lieber Werner, Deine Fragen strotzen vor Tiefsinn, haben aber immerhin den Vorzug, dass sie eindeutig zu beantworten sind: Das Wahljahr bestimmt die Politik.
Selbstverständlich sieht es die Politik nicht als ihre Aufgabe an, die anstehenden Probleme zu lösen, ansonsten diese schon alle längst gelöst wären: Eine durchaus beweiskräftige Aussage, wie Du sogleich festgestellt hast. Sehr gute Voraussetzungen für ein endloses Weiterwirken ergeben sich, wenn es gelingt, die erwähnten Probleme ins Unendliche zu vergrössern, sie im Idealfall in eine geradezu unlösbare Form umzuwandeln, wie das im Krankheitswesen praktisch aller zivilisierten Länder in unübertrefflicher Art gelungen ist. Die Kosten steigen, der (Grenz-)Nutzen nimmt ab und die Menschen werden immer kränker, volkswirtschaftlich nicht zu übertreffende Zustände. Die Lehrstühle für Politologie können dieses Musterbeispiel für alle Bereiche beiziehen. Bei den öffentlichen Haushalten und in der Intensivlandwirtschaft ist ein solcher Prozess längst im Gang, um nur wenige Beispiele zu nennen. Die Inszenierung des GATS, der Privatisierung ehemals öffentlicher Dienstleistung, wird weitere unlösbare Dauerprobleme herbeiführen, eine kaum zu übertreffende politische Idee.
Das oberste und praktisch einzige Ziel jedes selbstbewussten Politikers ist es, wiedergewählt zu werden und zwar sehr gut (das gilt auch für die Politikergemeinschaften, die man Parteien nennt und zu denen auch eine Portion Fussvolk gehört, das neben Parteibeiträgen den Applaus beizusteuern hat). Nur dann ist es ihm, dem Politiker oder der Politikerin, möglich, im Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses zu stehen und eine weitere Wiederwahl vorzubereiten.
Also wird man nicht Probleme lösen, weil damit ohnehin nur gewisse Bevölkerungsgruppen verärgert würden, sondern sie wälzen und seine Kräfte darauf konzentrieren, sich selber mit salomonischen Sprüchen in ein glanzvolles Licht zu setzen. Was ein richtiger Politiker ist, wird sich also in der Umgebung der medialen Beleuchtungstechniker aufhalten und nur etwas tun, wenn davon auch medial Notiz genommen wird. Alles andere wäre verpuffte Kraft.
Zugegebenermassen ist der Politiker-Beruf anspruchsvoll. Er muss das Problemeverschleppen oder -vergrössern ständig schönreden und es im Brustton der Überzeugung sogar zum Erfolg verdrehen; faustdicke Lügen gehören zum Spiel. In den USA spricht man in solchen Zusammenhängen von einer "white lie", einer weissen (oder frommen) Lüge, was wir auch als Notlüge bezeichnen. Und Not hwerrscht immer. Mit den Jahren und zunehmenden Erfahrungen entwickelt sich dieses Weisslügen (Weisswaschen) bei ununterbrochener Übung zu einem eigentlichen Lebensstil, der sich nahtlos in die Philosophie der angepassten Medien (Mainstreammedien nach US-Vorgaben) einfügt. Diese traumhafte Kombination gewährleistet eine glänzende Wiederwahl.
Nun noch ein Wort zu Deiner speziellen Allergie, lieber Werner. Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, ist eigentlich immer Wahljahr (unabhängig von der Dauer der Amtszeit). Du hast dementsprechend praktisch keine Chance, den Allergenen auszuweichen. Statt Cortison oder dergleichen Gifte zu schlucken, musst Du Dein Immunsystem stärken. Ich empfehle Dir zu diesem Zwecke, den Fernsehkasten zu versiegeln und die so gewonnene wertvolle Zeit zum Studium von Büchern einzusetzen, die sich mit der Politik kritisch befassen. Hier ein paar Autorennamen, eine rudimentäre Liste, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: Peter Scholl-Latour, Michael Moore, Emmanuel Tood, Naomi Klein, Peter Handke, Günter Grass, Luzi Stamm u.a.m. Wenn Du dann Ursachen und Methoden ganz genau durchschaut hast, wird es Dir leicht fallen, Dich richtig zu verhalten. Du brauchst dann das politische Geschwätz nur noch ins Gegenteil zu verkehren und bist dann dem wahren Sachverhalt ziemlich genau auf der Spur.
Viele Lügen bestehen allerdings aus Weglassungen, das heisst man erhält Teilwahrheiten vorgesetzt. Zwar bringt auch hier das Umdrehen um 180 Grad einen gewissen Erfolg, gewährleistet aber nicht den gesamten. Die Kunst besteht bei dieser Sachlage darin, die offiziellen Quellen zu umschiffen und nach den versteckten Wahrheiten zu fahnden, ein delikates, anspruchsvolles Unterfangen. Das Internet bietet Möglichkeiten zu weiterführenden Recherchen, jenseits redaktioneller Selektionen. Wer etwas Gespür entwickelt, wird lernen, den Weizen von der Spreu zu trennen, wozu auch Informationsvergleiche verhelfen.
Wir müssen die Welt mit ihren Allergenen hinnehmen, wie sie ist. In reifern Jahren, deren wir uns beide gleichermassen erfreuen, erkennt man allmählich, dass man kaum etwas Wesentliches verändern kann. Auch das Umerziehen der Menschen, die uns in kurzer Distanz begleiten, nach unseren Wünschen und Vorstellungen bleibt ein Wunschtraum, zumal diese ja auch uns gern anders (nach ihrem Gusto) hätten. Ein Nullsummenspiel. Also bleibt nur, dass wir uns intelligent verhalten, all die Spielchen genau wie die weissen und die rabenschwarzen Lügen durchschauen, sie gelegentlich als Chance nutzen und wenn immer möglich für unsere Zwecke ummünzen. Dann setzt automatisch ein Heilungsprozess ein, und die Allergien verschwinden zwangsläufig.
Wenn schon die Politiker eher Probleme schaffen als lösen, sollten wir wenigstens im privaten Umfeld zeigen, dass es auch anders ginge. Auch bei uns gibt es nur Wahljahre: Die Wahl der richtigen Methoden, was mit dem richtigen Lebensstil gleichzusetzen ist.
Nicht aufgeben heisst die immerwährende Devise, lieber Werner.
Mit freundlichen Grüssen und Wünschen aus dem milden Mittelland ins Heilklima der Bündnerberge
Walter
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