Heute habe ich draussen auf dem Sitzplatz die längste Zeit eine Ameise beobachtet, die so etwas wie einen Käfer, fast grösser als sie selbst, tapfer vor sich her trug und völlig desorientiert herumrannte. Sie kam immer wieder zum Ausgangspunkt zurück, und auch ihre Kolleginnen schienen kopflos umherzurennen. Vielleicht die Folge einer Nestzerstörung? Essen Ameisen denn auch andere Insekten?
Lislott Pfaff, CH-4410 Liestal
Antwort: So ist es, aber nicht nur. Wie wir Menschen auch, haben die etwa 4000 bis 5000 verschiedenen (übrigens ebenfalls staatenbildenden) Ameisenarten (Formicoidea) ganz unterschiedliche Ernährungsbedürfnisse. Neben räuberisch lebenden Ameisen gibt es die rein vegetarisch lebenden (auch unter uns Menschen kennt man schliesslich Räuber und Vegetarier). Die Ameisen, die sich für den vegetarischen Lebensstil entschlossen haben, sammeln Samenkörner und stapeln diese in ihren Nestern auf, oder aber sie legen (wie die Blattschneiderameisen, Attini) unterirdische Pilzgärten an, um sich ausschliesslich von den Fruchtkörpern, den Bromalien oder „Kohlrabi“, der von ihnen kultivierten Pilze zu ernähren.
Viele Ameisenarten ernähren sich grösstenteils von den süssen Sekreten und Exkreten anderer Insekten (Blattläusen, Schildläusen, Zikaden, einigen Schmetterlingsraupen usf.). Solche Ameisen melken andere Insekten, die sie als Nutzvieh betrachten, im Prinzip wie es der Mensch mit den Kühen tut. Die Honigameisen bauen für ihre Honigtau-Lieferanten, die sie mit ihren Fühlern zur Abgabe des Honigtaus anregen, einfache überdachte Unterstände, wie sie in der heutigen Landwirtschaft wieder üblich geworden sind, allerdings im entsprechend kleineren Format und nach durchgehenden baubiologischen Prinzipien. Als Baumaterial dient diesen Ameisen mit Speichel vermischte Erde, oft auch eine papierähnliche Masse aus zerkauten Pflanzenteilen. Als Gegenleistung verteidigen Ameisen ihr Nutzvieh gegen Feinde, genau wie dies auch jeder vernünftige Bauer tut.
Zu den insektenessenden Ameisen gehört in unseren Breitengraden vor allem die Rote Waldameise (Formica rufa L.): Die lebendige Beute wird von mehreren Ameisen überwältigt, indem sie ihr mit ihren scharfen Oberkiefern tiefe Wunden zufügen, in die sie ihr die ätzende Ameisensäure aus ihren Drüsen im Hinterleib spritzen. Die roten Waldameisen, die unter Naturschutz stehen, sind also wichtige Regulatoren des ökologischen Gleichgewichtes im Wald, weshalb sie auch „Waldpolizei“ oder „Waldpolizisten“ genannt werden. Die Bewohner eines einzigen Nestes können pro Tag bis zu 100 000 Insekten vertilgen. Die Soldaten helfen den Arbeiterinnen beim Zerkleinern von Tieren, die für den Transport en bloc zu gross sind. Bei einigen weniger entwickelten Ameisenarten, beispielsweise bei den Stachelameisen, werden die Larven mit Insekten gefüttert, die sie selbst zerkleinern müssen.
Allerdings haben die Waldameisen in den eintönigen Försterplantagen, als Monokulturen angebauten Wäldern, keine Überlebenschancen. Die der Ökonomie erlegenen Förster beklagen dann Insektenplagen und machen Jagd auf Borkenkäfer. So ist halt das menschliche Naturverständnis. Das Denken in Zusammenhängen schaffen nicht alle Menschen. Wenn man einen Lebensraum zerstört, vernichtet man auch die Arten, die darauf angewiesen sind.
Wenn eine Ameise „völlig desorientiert umherrennt“, wie Sie schreiben, dann hat sie vielleicht die Duftspur verloren, die zum Nest mit dem charakteristischen Nestgeruch führen könnte. Der Gesichtssinn spielt bei den Ameisen eine nur untergeordnete Rolle; viele sind blind. Die Kolonie (Grossfamilie) bedeutet ihnen alles. Sie betrillern sich gegenseitig mit ihren Fühlern, füttern, belecken und reinigen einander ebenso wie die Larven und Eier, um letztere vor Schimmelpilzbefall zu bewahren.
Eine Ameise zu beobachten, ist immer anregend. Man könnte über diese Welt ganze Bücher schreiben (das ist ja auch schon tausendfach geschehen). So können wir uns aufs Beobachten und Lesen kaprizieren und so zu einem kleinen Ameisenforscher werden, eine faszinierende Freizeitbeschäftigung, die immer neue Überraschungen bereithält.
h.
*
* *