Aus einer Mauerritze wächst bei mir der Stinkende Storchschnabel. Aber er stinkt überhaupt nicht. Woher kommt der Name?
P. St., CH-4663 Aarburg
Antwort: Ja, die Sprache ist eine wirkende Kraft, und sie ist aufgrund der jeweiligen Weltansicht entstanden. Das heisst hinter ihr steht ein vom Menschen gezeichnetes Weltbild, das durch seine Wirkungen ähnliche Weltbilder erzeugt. Bezeichnet man eine Pflanze als "Unkraut", ist das eine üble Verunglimpfung; denn keine einzelne natürlich vorkommende Pflanze ist eine Unpflanze; sie kann höchstens aufgrund einer menschlichen Fehlbeurteilung dazu gemacht werden. Und aus solchen Fehlbezeichnungen kann sich ein muttersprachliches Weltbild ergeben, das Beurteilungen und Verurteilungen, aber auch Beschönigungen (Euphemismen), enthält und zu einer verzerrten Weltanschauung führt.
Der Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber (18991985) hat sich der Beeinflussung der Erkenntnis und des Denkens durch die Sprache angenommen. Er ist zur Auffassung gelangt, dass wir es im Denken und Erkennen nicht mit der Welt des Seins zu tun haben, sondern mit den von uns gemalten Bildern davon. Und so nimmt er zwischen der Wirklichkeit und dem Menschen eine Zwischenwelt an, eine so genannte "wahre Welt", "welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Kraft seiner Arbeit setzen muss. Diese geistige Innenwelt ergibt sich aus dem Zusammentreffen von vorgegebener 'Aussenwelt' und menschlicher 'Innenwelt'." Dabei steht er in der Tradition Wilhelm von Humboldts (17681835): "Das Wort ist freilich insofern ein Zeichen, als es für eine Sache oder einen Begriff gebraucht wird, aber nach der Art seiner Bildung und seiner Wirkung ist es ein eignes und selbständiges Wesen, ein Individuum, die Summe aller Wörter, die Sprache ist eine Welt, die zwischen der erscheinenden ausser, und der wirkenden in uns in der Mitte liegt; sie beruht freilich auf Konvention, insofern sich alle Glieder eines Stammes verstehen, aber die einzelnen Wörter sind zuerst aus dem natürlichen Gefühl des Sprechenden gebildet, und durch das ähnliche natürliche Gefühl des Hörenden verstanden worden; das Sprachstudium lehrt daher, ausser dem Gebrauch der Sprache selbst, noch die Analogie zwischen dem Menschen und der Welt im allgemeinen und jeder Nation insbesondere, die sich in der Sprache ausdrückt, und da der in der Welt sich offenbarende Geist durch keine gegebene Menge von Ansichten erschöpfend erkannt werden kann, sondern jede neue immer etwas Neues entdeckt, so wäre es vielmehr gut, die verschiedenen Sprachen so sehr zu vervielfältigen, als es immer die Zahl der den Erdboden bewohnenden Menschen erlaubt."
Heute ist im Zeichen der Amerikanisierung gerade der gegensätzliche Trend auszumachen; Sprachen sterben, werden überlagert, ein Eintopf im Denken entsteht. Die Zwischenwelten verarmen, werden banaler, eine Simplifizierung, die das ganze moderne Denken durchdringt. Aber offensichtlich gab es schon immer Tendenzen in dieser Richtung, besonders bei Namengebungen, wo mit möglichst einem einzigen Eigenschaftswort eine Pflanze aus einer ganzen Familie mit ähnlichen Eigenheiten bezeichnet werden musste. Als Beispiel mag hier der Stinkende Storchschnabel (Geranium robertianum L., Ruprechtskraut) dienen. Diese Pflanze mit dem roten, behaarten Stengel (im Herbst färben sich auch die dekorativen mehrfach fiederspaltigen Blättchen rot) stinkt überhaupt nicht. Nur wenn man einen Pflanzenteil zwischen den Fingern zerreibt, werden ätherische Öle frei, die intensiv duften, aber meines Erachtens nicht stinken; es ist eine Ermessenfrage, ob man den herben Duft als unangenehm oder sogar als Gestank empfindet. Er geht beim Trocknen verloren.
Dieser Storchschnabel ist eine Heilpflanze. Der daraus zubereitete Tee wird bei chronischen Magen-Darm-Erkrankungen getrunken und auch als Wundmittel verwendet. In der Homöopathie wird die ein- oder zweijährige Pflanze bei Nieren- und Darmerkrankungen, Gicht, Rheumatismus, Drüsenerkrankungen wie Lymphdrüsenschwellungen, Gallensteinen und Nabelkolliken bei Kindern eingesetzt.
Man könnte dem Stinkenden Storchschnabel also ebenso gut Heilender Storchschnabel sagen, das wie Knecht Ruprecht (Gestalt des Weihnachtsmannes) viele gute Dinge im Säcklein mitbringt. Eine Rute war bei Ruprecht zum Glück auch dabei. Man müsste sie bei Leuten einsetzen, die mit der Sprache leichtsinnig umgehen und Zerrbilder zeichnen.
Walter Hess
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