"Neulich sagte eine Bekannte zu mir, sie sei sehr religiös und könne sich deshalb nicht mit der Freitod-Theorie anfreunden, obwohl sie Verständnis für jene Menschen habe, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr finden können. Nun frage ich mich, ob nicht gerade ein religiöser Mensch einem Mitmenschen, der aus Gründen des körperlichen oder psychischen Zerfalls freiwillig aus dem Leben scheiden möchte, ein würdiges Sterben zugestehen müsste, so wie echte Religiosität auch für alle ein würdiges Leben anstreben sollte. Denn Leben und Tod gehören doch zusammen, oder nicht? Vielen Dank im Voraus für Ihre Gedanken zu dieser Frage."
B.T. B., CH-5705 Hallwil
Antwort: Es geht in dieser Frage um das Recht auf den eigenen Tod, das man sich auch von einer Religion nicht nehmen lassen sollte. Es darf nicht sein, dass sterbewillige Menschen zum Weiterleben gezwungen werden, zu einem Leben, das ihnen vielleicht nur unerträgliche Schmerzen und Qualen verursacht. Die Gefahren liegen heute weniger in einer medizinischen Unterversorgung als vielmehr in einer Überversorgung, so dass das zur Qual gewordene Leben von kranken und leidenden Personen unter dem Aufgebot aller pharmazeutischen und medizintechnischen Möglichkeiten oft unnötig und über jede Vernunft hinaus verlängert wird. Von einem natürlichem Tod kann keine Rede mehr sein. Dieser eigentliche Missstand hat zur Gründung von Organisationen geführt, die sich dafür einsetzen, dass der Todeswunsch eines Menschen respektiert wird und eine Freitod-Begleitung anbieten.
Grundsätzlich müsste jeder Mensch die Möglichkeit haben zu bestimmen, ob er weiterleben oder das Zeitliche segnen möchte; denn das Leben ist ein Geschenk und dürfte nicht zu einem Zwang umfunktioniert werden. Der Wunsch von Sterbewilligen nach einem menschenwürdigen Tod müsste auf jeden Fall respektiert werden, von staatlichen Gesetzgebungen ebenso wie von Religionen. Das gilt auch in Bezug auf urteilsunfähig gewordene Menschen, die ihre Wünsche früher zu Protokoll gegeben haben (Patienten-Testament). Allerdings ist man noch weit davon entfernt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hat am 29. April 2002 im Fall der unheilbar kranken Britin Diane Pretty die aktive Sterbehilfe abgelehnt[1]. Dabei handelte es sich aber um kein Grundsatzurteil. Die Richter bezogen das britische Recht in ihren Entscheid ein, wonach Handlungen unter Strafe gestellt werden, die dem Leben widersprechen. Laut dem "Suicide Act" wird die Unterstützung beim Selbstmord für strafbar erklärt. Die Rechtslage ist in den meisten Ländern unklar. Das deutsche Grundgesetz beispielsweise garantiert das Recht auf Leben, aber nicht ausdrücklich ein Recht auf Sterben.
Wenn es diesbezüglich noch immer Unklarheiten gibt, ist oft eine falsche Einstellung zum Tod die Ursache dafür. Das Sterben ist genauso ein Bestandteil des Lebensverlaufs wie die Geburt; da haben Sie vollkommen Recht. Gleichwohl wird oft alles versucht, um dieses Naturgesetz auszuhebeln vergebens. Der Lebenszyklus kann kürzer oder länger sein, im Prinzip aber ist das Resultat immer dasselbe. Der Tod tritt oft (in der Regel) als Erlöser auf, wie jedermann weiss, der einen schwerkranken Menschen in den letzten Monaten begleitet hat. Man kann auf lebensverlängernde Massnahmen verzichten und einfach die Schmerzen lindern helfen, oder aber durch geeignete Massnahmen und mit Hilfe von Organisationen oder Personen, die in der Sterbebegleitung Erfahrung haben und den Willen des Sterbewilligen und die gesetzlichen Vorschriften in Übereinstimmung bringen, den Todeszeitpunkt vorverlegen (aktive Sterbehilfe), um einen "sanften, schönen Tod" (Euthanasie, aus dem Griechischen) zu erleben.
Das sollte jede Person nach eigenem Gutdünken im Wissen bestimmen dürfen, da sie zu einem eigenverantwortlichen Handeln das volle Recht haben müsste. Die Religionen und die Gesetzgeber und Gerichte haben Vernunft walten zu lassen, dem Menschen zu dienen und nicht irgendwelche Dogmen zu vollziehen. Es ist auch niemand verpflichtet, Religionen und religionsähnlichen Organisationen Gefolgschaft zu leisten, die das Leben und Sterben ihrer Gläubigen unnötig erschweren[2]. Zu Religionsfreiheit kann gegebenenfalls auch das Freisein von einer Religion gehören.
W.H.
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[1] Die 1958 geborene, vom Hals abwärts gelähmte Britin Diane Pretty, die sich weiteres Leiden ersparen wollte, vertrat die Ansicht, aus dem Lebensrecht folge auch ein Recht zu sterben. Das Gericht in Strassburg zeigte sich gegenteiliger Ansicht: Aus dem Recht auf Leben könne man kein entgegengesetztes Recht konstruieren, auch kein Recht auf Selbstbestimmung, den Tod eher als das Leben zu wählen.
[2] Die katholische und die evangelische Kirche lehnen aktive Sterbehilfe ab. In der Bibel findet sich keine ausdrückliche Stellungnahme zum Selbstmord. Doch hat der einflussreiche und heilig gesprochene "Kirchenvater" (Kirchenlehrer) Augustinus (354-430) bei der Auslegung der biblischen Gebote jeden Selbstmord verboten. Er berief sich dabei vor allem auf das 5. Gebot "Du sollst nicht töten". Dieses sollte seiner Ansicht nach auch sich selbst gegenüber gelten, da hier nicht wie bei anderen Geboten "deinen Nächsten" hinzugefügt ist. So wurde das Gebot der Nächstenliebe in ein Gebot der Eigenliebe umfunktioniert. Augustinus verabsolutierte so das 5. Gebot zu einem Selbst- und Fremdtötungsverbot schlechthin. Er stellte den Selbstmord als sogar eher verwerflicher dar als einen Mord. Auf Augustinus geht im Wesentlichen auch der Alleinseligmachungs-Anspruch des Christentums zurück. "Die Wirklichkeit, die jetzt Christentum genannt wird", schrieb er, "gab es schon bei den Alten. Sie fehlte nicht seit Anbeginn der Menschheit, bis Christus im Fleisch erschien. Von da ab begann die wahre Religion, die schon da war, die christliche zu heissen." Da hatten die so genannten "Heiden" keine Chance mehr... Und seither ist die Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der christlichen Theologie wichtig: "Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." (Eph 4,24). Sein Einfluss auf die christlichen Religionen ist heute noch spürbar.
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Die obigen Ausführungen von W.H. zum Recht auf den eigenen Tod kann ich nur unterstreichen. Und ebenso klar scheint mir zu sein, dass ich mir in dieser Beziehung von keiner Religion Vorschriften machen lasse.
Nun behauptete aber ein Staatsanwalt in einem Interview ( info EXIT 1-2004), auch aus Sicht der Grundrechte also nicht nur aus religiöser Sicht gebe es kein Recht auf den eigenen Tod. Ich frage mich, wer ein solches (Un-)Recht überhaupt in die Welt bzw. in Kraft gesetzt hat. Wenn ich schon kein Recht auf meine eigene Geburt habe das heisst kein Recht, meine Geburt entweder zu akzeptieren oder zu verweigern , so möchte ich zumindest dieses unfreiwillig begonnene Leben freiwillig beenden können.
Zwar wird mir vom Gesetz das Recht auf Suizid grosszügigerweise schrankenlos eingeräumt, sofern keine weiteren Personen am Selbstmord beteiligt sind. Schön und gut. Aber wie sollte ich einen Suizid ohne fremde Hilfe bewerkstelligen, wenn ich blind, gelähmt, völlig hilflos im Bett liegen würde? Ein Schuss mit der Pistole käme da schon einmal nicht in Frage (abgesehen davon, dass ich noch nie eine Pistole in den Händen hatte). Aber auch die Einnahme eines zum Tod führenden Medikaments wäre in einem solchen Fall unmöglich. Die schrankenlose Bewilligung eines Suizids ohne Drittbeteiligung ist demnach zwar ganz nett, aber für die/den Betroffene/n sinn- und wertlos. Es wäre deshalb zu begrüssen, wenn der Gesetzgeber eine klare Regelung schaffen und die Beteiligung von Drittpersonen bei einem Selbstmord nicht mehr verbieten würde.
Lislott Pfaff
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